Wie ticken die Bundesländer? Diesmal: Wie wurde der Westen Österreichs zu dem, was er heute ist.
Vorarlberg ist anders. Das ist das, was man im sogenannten Ländle, ganz im Westen Österreichs, gerne sagt. Der Arlberg trenne geografisch und mental zwischen Vorarlberg (sic!) und Hinterarlberg – sprich Tirol und dem Rest von Österreich.
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Vorarlberg ist schon anders, aber nicht ganz so anders, wie man tut, meint der Vorarlberger Historiker Wolfgang Weber. Das Andersartige gehört zur Folklore und begründet sich aus der Geschichte heraus. Denn das Ländle brauchte einen Anschub in Sachen Identitätsfindung.
Die meisten österreichischen Bundesländer sind schon seit Jahrhunderten als Entität vorhanden. Tirol ist etwa seit 1300 eine Grafschaft, Steiermark und Kärnten seit 1100 Herzogtümer und die Erzdiözese Salzburg wurde um 900 gegründet.
Von den klassischen alten Kronländern ist Vorarlberg das letzte Land, das ein eigenes Land wird – nämlich erst 1864. Kurz davor musste man zwischen Bregenz und Bludenz siebenmal eine Grenze passieren und Importsteuern zahlen.
Richtig eigenständig war Vorarlberg damals aber auch noch nicht, die damalige Oberbehörde, die Statthalterei, war in Innsbruck, und Vorarlberg war nur ein bisschen autonom, aber nicht so autonom wie die anderen Bundesländer.
„Für mich erklärt sich vieles aus der verspäteten Landwerdung“, sagt Wolfgang Weber. Denn damals hat es Sinn gemacht, nach der spezifischen Vorarlberger Identität zu fragen. Weil sonst wäre man ja wie der Rest, nur schlechter gestellt. „Da wurde in Vorarlberg dann die Idee des Alemannentums stärker verfolgt“, sogar das Landesmuseum in Bregenz wurde Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, um die Identität zu verfestigen. „Die Nationenwerdung in Vorarlberg ist im Prinzip eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Da war es dann wichtig, dass ich mich zu anderen abgrenze und mich definiere“, urteilt Weber. Hier wurzeln Selbstzuschreibungen der Vorarlberger wie etwa „Schaffa, schaffa Hüsle bauen“ – wir sind besonders fleißig und mit Wien hat man nichts am Hut. Das hat sich übrigens auch in der bisher größten Demonstration Vorarlbergs gezeigt, als sich die Bundesrepublik in Gestalt von Wien erdreistete, ein Schiff am Bodensee auf den Namen Karl Renner zu taufen. Als „Fußachaffäre“ gingen die gewaltsamen Proteste 1964 in Bregenz in die Geschichtsbücher ein. Vorarlberg hat damit ein Exempel statuiert. Das Schiff wurde schließlich anders getauft. Auf den schlichten Namen: „Vorarlberg“.
Geschichte, die bis heute nachwirkt: die alemannische Erbfolge
Das „Hüsle“-Bauen (also Haus bauen) als gemeinsame Identität hat übrigens nicht unbedingt etwas mit dem Fleiß zu tun. Sondern mit der Tatsache, dass in Vorarlberg überproportional viele Alteingesessene über ein kleines Stück Boden verfügen. Das ist tatsächlich ein Spezifikum Vorarlbergs, weiß Wolfgang Weber. Denn während im Rest von Österreich bei der Erbfolge von landwirtschaftlichen Gehöften römisches Recht galt, dass immer nur den Ältesten den Bauernhof erben ließ, war in Vorarlberg bis zur Landwerdung alemannisches Erbrecht ausschlaggebend: Die Bauernhöfe wurden in der Erbfolge immer auf die Erben aufgeteilt. Damit wurden die Landwirtschaften immer kleiner und kleiner.
Das hat gravierende Folgen, die heute noch sichtbar sind. Die Landwirte wurden gezwungen, auch in die Lohnarbeit zu gehen, um sich ein Taschengeld zu erwirtschaften. Aber in ihrem Selbstbild blieben sie Landwirte und Kleinbürger, und zählten sich nicht zum Proletariat, weil sie ja doch noch ein paar Ziegen und Hühner auf dem kleinen Stück Land haben, „die Fabrikarbeit mache ich dann nur so nebenher“, sagt Weber.
Eine andere Konsequenz daraus war, dass die einheimischen Vorarlberger:innen oft über ein noch so kleines Stück vererbten Boden verfügen, auf dem es vergleichsweise billig ein Haus zu bauen war.
„Deswegen hatten wir in Vorarlberg im Prinzip bis weit in die 1980er Jahre keinen sozialen Wohnbau. Weil die ÖVP gesagt hat: Wozu? Es hat ja jeder einen Boden. Da vergeben wir lieber günstige Kredite zum Hausbau“, sagt Weber. Vorarlberg hat noch heute die höchste Wohnbauförderung in ganz Österreich.
Vorarlberg und die Parteien
Die Vorarlberger Besonderheit und die Distanz zu Wien zieht sich laut Weber in Vorarlberg sowohl durch konservative als auch durch linke politische Kreise.
Die ÖVP sieht sich als Partei der Eigentümer und Landwirte. Die Konservativen waren auch die erste Partei, die sich in Vorarlberg gegründet hatte, die das Alemannentum als Idee verfolgt haben. Sie hatten zudem schnell in jeder Gemeinde eine Repräsentation, weil sie im Bündnis mit der katholischen Kirche groß geworden sind. „Da war der Pfarrer auch gleichzeitig Ortspartei-Sekretär, oder es hat gereicht, dass der Pfarrer Korrespondent der christlich-sozialen Tageszeitung war. Damit haben die Konservativen das bessere Netzwerk gehabt“, erzählt Weber über strukturelle Verhältnisse
Die Eigentumsverhältnisse in Vorarlberg, die Wohnsituation und das Selbstverständnis aus dem Anderssein-Heraus machten es der Sozialdemokratie in der Geschichte zum Teil schwer, Fuß zu fassen. „Die mussten den Spagat machen zwischen: wir haben Republik gegründet, wir stehen zu Wien - aber um hier zu reüssieren, mussten sie auch Lokalkolorit zeigen.“ Das wurde unter anderem durch das Einheiraten in lokal wichtige Familien bewerkstelligt.
Die großdeutschen Freiheitlichen und Nationalen haben sich nicht nach Wien, sondern Deutschland orientiert. Da waren schließlich auch die Absatzmärkte der Fabrikanten und der Textilindustrie. Auch die FPÖ hat aber ihre eigene Vorarlberger Besonderheit. Wie Jörg Haider zunehmend die Bundespartei polarisierte, hatte sich die Vorarlberger FPÖ klar distanziert und sich kurzfristig als „Vorarlberger Freiheitliche“ bezeichnet.
Die Grünen sind laut Weber diejenigen, die sich am wenigsten von der Bundespartei distanzieren mussten. Auch weil sich die Bundesgrünen aus Vorarlberg entwickelt haben.
Vorarlberg wird oft als Beispiel für eine frühe Grünbewegung genannt. Dort hat Ende der 60er Jahre die heimische Anti-Atomkraft-Bewegung begonnen; weil man im benachbarten schweizerischen Rüthi ein AKW erbauen wollte. Von Wien kam gegenüber Bern das Okay, aber in Vorarlberg hielt man dagegen. Aus der Bewegung heraus sind schließlich die Grünen entstanden. 1984 waren die Vorarlberger Grünen die ersten in Österreich, die in einem Landtag gesessen sind.
Die Neos sind zwar von einem Vorarlberger mitbegründet worden, aber sie waren von Anfang an stark urban – also Richtung Hauptstadt - geprägt.
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Infos und Quellen
Daten und Fakten
ÖVP: 36,6 % - SPÖ: 13,1 % - FPÖ: 14,7 % - NEOS: 13,6 % - JETZT: 2,1 % - GRÜNE: 18,1 %
Vorarlberg ist das zweitkleinste Bundesland mit der Fläche von 2600 Quadratkilometer (nur Wien ist kleiner).
Vorarlberg verfügt über knapp 411.000 gemeldete Hauptwohnsitze – nur das Burgenland hat mit 301.600 noch weniger Einwohner.
Um die Zahlen richtig zu verstehen, muss man aber die Geografie mitdenken. Auf den hohen Bergen finden sich nur die Almen – die meisten Vorarlberger leben im semi-urbanen Raum, im Rheintal zwischen Feldkirch und Bregenz. 250.000 Menschen wohnen auf dieser ebenen Fläche, auf der sich Stadt an Stadt anfügt. In gewisser Weise ist das nach Wien und Graz die drittgrößte semi-städtische Ansammlung Österreichs.
WKO Wirtschaftsbericht: Vorarlberg hat 2023 eine Arbeitslosenquote von 5,2 Prozent (österreichischer Durchschnitt war 6,4 Prozent)
Spitzenreiter ist Vorarlberg bei der Innovationsquote. Im Jahr 2023 meldeten die Vorarlberger:innen 147 Patente an. Das sind 36,2 Patente pro 100.000 Einwohner. Österreichweit sind es 19,5 Patente pro 100.000 Einwohner.
Die identitätsstiftenden Alemannen waren eine frühmittelalterliche Bevölkerungsruppe.
Gesprächspartner
Wolfgang Weber ist derzeit Gastprofessor an der FH Dornbirn. Er hat viel über die Vorarlberger Geschichte publiziert. Im Herbst wird ein weiterer Aufsatz von ihm in einem Sammelband des Böhlau Verlags erscheinen („Österreichs Bundesländer und die Umbrüche 1989/91", Herausgeber Andrea Brait und Michael Gehler).
Prominente Vorarlberger
Michael Köhlmeier
Reinhold Bilgeri
Beide sind auch Urheber der heimlichen, wenngleich ironischen Landeshymne: „Oho Vorarlberg" mit dem eingängigen Text: „Vorarlberg, zwar bischt als Land ein Zwerg".
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
ORF on: Die Fußach-Affäre ist ein Abgrenzungs-Meilenstein in der jüngeren Geschichte. In der Bodensee-Anrainer-Gemeinde Fußach lief ganz Vorarlberg gegen „Karl Renner" als Schiffsname - erfolgreich - Sturm.