Tel Aviv. Dov Jacobovitch war 14, als er mit seiner Familie in Rumänien nahe der ungarischen Grenze in einen Zug gesteckt wurde und nach Auschwitz kam. An einem Tag im Frühling 1943, das genaue Datum hat er vergessen, stand er vor dem Tisch des gefürchteten Josef Mengele. Der Lagerarzt von Auschwitz schickte ihn, seinen älteren Bruder und seine ältere Schwester nach rechts. Die Mutter mit den jüngeren Kindern kam nach links, wo die Gaskammern waren. Seine zehnjährige Schwester und die sechsjährigen Zwillinge sollte Jakobovitch nie wieder sehen.

Geblieben ist dem Überlebenden ein Foto von der Mutter in Gestalt einer Fotokopie, die an der Wand seiner Einzimmerwohnung im Altersheim klebt. Geblieben sind ihm auch die schrecklichen Träume. Manchmal wacht er nachts auf, nass vor Schweiß, mit trockenem Mund. Dann setzt er sich vor den Fernseher und klickt sich durch die Satellitenprogramme. Eine Stunde, zwei, drei. Bis es sechs Uhr morgens ist. Immer wieder flüchtet er aus seinem engen Zimmer in einem Altersheim im Tel Aviver Stadtteil Hativka. Der Name bedeutet Hoffnung - doch in dem Bezirk im Süden Tel Avivs bleibt heute nur noch, wer es sich nicht leisten kann, anderswo hinzuziehen.

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Jacobovitch ist kein Einzelfall in Israel. Vergangenes Jahr veröffentlichte die Stiftung zur Unterstützung von Holocaust-Überlebenden in Tel Aviv ihren jüngsten Bericht zur sozialen und finanziellen Lage der Überlebenden. 193.000 Menschen, die unter den Nationalsozialisten gelitten haben, leben heute noch in Israel. Knapp die Hälfte von ihnen leidet unter psychischen Problemen und Einsamkeit.

Ein Viertel lebt unter dem Existenzminimum, ein Fünftel musste wiederholt bei den Lebensmitteln sparen, um sich Medikamente leisten zu können. "Die Zahlen zeigten ein erschreckend düsteres Bild der Lebensumstände dieser Menschen", sagt Rony Kalinsky, der Leiter der Stiftung. "Die kommenden fünf Jahre sind die letzte Möglichkeit, ihnen ein Lebensende in Würde zu ermöglichen."

Verwahrloste Wohnungen

Geld dazu wäre vorhanden. 1952 einigte sich die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat der NS-Diktatur mit dem jungen Staat Israel und der Jewish Claims Conference, die Entschädigungsansprüche jüdischer Holocaust-Opfer vertritt, im Luxemburger Abkommen auf Zahlungen von mehreren Milliarden Mark. Das Abkommen wurde stetig erneuert, noch vor zwei Jahren verpflichtete sich die Bundesregierung in Berlin auf weitere 800 Millionen Euro, die bis 2017 für die Verbesserung der Lebenssituation von Überlebenden verwendet werden sollen, ein Drittel davon für Menschen in Israel.

Allerdings sah das vor Jahrzehnten geschlossene Abkommen nur Unterstützung für Menschen vor, die bis 1953 nach Israel eingewandert waren. Wer danach kam, erhielt nur die gesetzlich vorgeschriebene Alterspension. Auch nordafrikanische Jüdinnen und Juden, die zwar nicht in die europäischen Vernichtungsstätten deportiert, jedoch während des Afrika-Feldzugs des Dritten Reichs in Konzentrationslagern in ihren Heimatländern interniert worden waren, blieben von den Zahlungen ausgeschlossen.

"Ich war Kommandant in der israelischen Armee und dachte, ich hätte in dieser Zeit eigentlich genug menschliches Leid gesehen", sagt Kalinsky. Aber die Armut, die er in seinen fünf Jahren als Stiftungsleiter bei manchen Hochbetagten angetroffen hat, überstieg seine Vorstellungen. "Wir säubern und renovieren rund zehn Wohnungen pro Woche, im ganzen Land. Damit diese Menschen nicht mehr in verschimmelten Badezimmern duschen und ihre letzten Jahre in verwahrlosten Wohnungen verbringen müssen."

Jahrzehntelang, sagt Kalinsky, sei das Thema von der israelischen Politik verdrängt worden. "Während der Kriegsjahre nach der Staatsgründung wollte man nichts von denjenigen Opfern hören, die sich wie Schafe zur Schlachtbank hätten führen lassen." Ein Umdenken fand erst vor einigen Jahren statt, und es dauerte bis in den Frühling 2014, dass der damalige Finanzminister Yair Lapid ein Gesamtpaket von einer Milliarde Scheckel (rund 220 Millionen Euro) ankündigte.

Angehobene Pensionen

Damit soll nicht nur die jahrzehntelange Ungleichbehandlung der Holocaust-Überlebenden aufgehoben werden, die nach 1953 in Israel eingewandert waren, sondern auch die Alterspensionen angehoben, Arzneikosten vollumfänglich übernommen und die bürokratischen Hürden für den Anspruch auf Sozialleistungen gesenkt werden. Im Sommer wurde das Paket vom Parlament gutgeheißen. Eine überfällige Maßnahme, meint Kalinsky. "Wir rechnen damit, dass wir in unserem nächsten Bericht eine deutliche Verbesserung der Lebensumstände der Überlebenden feststellen werden."

Dov Jacobovitch hat von dem Regierungspaket gehört, die Anwältin seiner Familie kümmert sich darum. Er hält dem ehemaligen Finanzminister Lapid zugute, dass er nicht nur leere Versprechungen machte. "Ich kannte seinen Vater, er war wie ich im Lager. Sein Sohn kennt unsere Geschichte."

Doch ob er nun tatsächlich eine erhöhte Pension erhält, kümmert Jacobovitch wenig, auch wenn er als langjähriger Speditionsfahrer im Arbeitsleben kein nennenswertes Vermögen angehäuft hat. "Sie haben so lange damit gewartet, uns zuzuhören, bis die meisten von uns tot sind. Wir mussten selbst zurechtkommen. Nun sollen sie das Geld besser den Jungen geben, dort gibt es auch zuviel Armut." Sollte er doch etwas erhalten, will er sich Spezialschuhe kaufen - "und ein Massagegerät für die Beine, damit sie noch eine Weile halten".