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In Europa unerwünscht

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Aaron und Anne de Haas fühlen sich in Europa nicht mehr sicher.
© Müller

Ein jüdisches Ehepaar über die Motive, nach Israel auszuwandern.


Elten. Es ist besiegelt. Der Abschied steht fest. "Verkocht" steht auf dem Schild vor dem selbstgebauten Haus aus hellem Holz, was auf Niederländisch "verkauft" bedeutet. Die Grenze zu den Niederlanden liegt nur ein paar Kilometer entfernt, und hier in Elten, dem letzten Stückchen Deutschland, wohnen einige Niederländer. Aaron de Haas, 78, ist einer von ihnen. Seine Frau Anne, 58, ist Deutsche. Was unerheblich ist. "Wenn sie mich fragten", sagt Aaron de Haas, "bist du eher Niederländer oder Jude, war mir immer klar: Ich bin Jude."

Ein Satz, der nachhallt und dessen unheilvolle Tragweite sich dabei immer mehr entfaltet. Warum gehen diese beiden Teile einer Identität nicht zusammen, ein Dreivierteljahrhundert nach dem Holocaust, trotz der Rede von der Renaissance jüdischen Lebens in Europa? Lange haben Anne und Aaron de Haas an diesem scheinbaren Widerspruch gelitten. Und nun die Konsequenzen gezogen: das Haus verkauft, die Kisten gepackt. 176 sind schon voll, um die 300, schätzt Aaron, werden es wohl. Am 1. Juli verlassen sie Deutschland, die Niederlande, Europa. Das Ziel: Safed, im Norden Israels.

Ein Mosaik aus Hass und Ignoranz

Es war keine plötzliche Entscheidung. Als nach dem jüngsten antisemitischen Mord, an der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll im März, ein Aufschrei durch Europa ging, war ihr Entschluss längst gefallen. "Vor drei Jahren sagte ich, lass uns gehen", erinnert sich Aaron. Seine Frau ergänzt: "Irgendwann sagte er zu mir: ‚Ich möchte hier nicht sterben.‘ Das war ein Warnsignal."

Nach dem einen Auslöser sucht man bei den de Haas, die beide als Betriebspsychologen arbeiten, vergeblich. Stattdessen ist da ein Mosaik aus Hass und Ignoranz, viele kleine Elemente, die sie zum Weggehen brachten. Judenfeindliche Vorfälle als Teile einer Grauzone, die das Gros der europäischen Gesellschaften kaum mitbekommt.

Wenn Juden geschlagen oder ermordet werden, herrscht Bestürzung bei Politikern und in den meisten Medien. Doch das geschieht nie aus heiterem Himmel. Es gibt immer Anzeichen. Warnsignale. Wovon dieses Paar ein beklemmendes Lied singen kann. Vor nicht allzu langer Zeit etwa schenkte Anne de Haas ihrem Sohn, der in Deutschland studiert, eine Handy-Schutzhülle mit Israel-Flagge. Worauf ein Bekannter folgerte, seine Mutter müsste ihn wohl sehr hassen, wenn sie ihm ein solches Geschenk mache.

Oder die Sache mit den Eiern. Die wurden vor ein paar Jahren gegen das Büro geworfen, das die beiden im niederländischen Veenendaal unterhalten. Nicht einfach so, vermuten sie, doch wie wollen sie ein antisemitisches Motiv beweisen? Selbst als in Amsterdam im Winter ein Palästinenser die Scheiben eines koscheren Restaurants zertrümmerte, wurde die Tat nur als Vandalismus verfolgt. Statt zur Polizei ging Anne de Haas also zu den Vermietern und bat darum, den Vertrag vorzeitig aufzulösen. Ihre Bitte wurde abgelehnt.

Am Eingang des Büros haben die beiden eine Mesusa angebracht. Das Gebäude ist also als ein jüdisches zu erkennen. Was auch für Aaron de Haas gilt, wenn er mit Kippa auf dem Kopf dort hineingeht, oder Anne, die einen Davidstern um den Hals trägt. Zufall ist es wohl auch nicht, denken sie, dass die Moped-Gang junger marokkanischer Niederländer just vor ihrem Büro ihren Treffpunkt eingerichtet hat. Wie viele andere Juden fühlt sich Aaron nicht sicher, wenn er in Amsterdam Kippa trägt.

Ähnlich wie in Österreich oder Deutschland, wird der aktuelle Antisemitismus auch in den Niederlanden vor allem als muslimisch wahrgenommen. Mit den Erfahrungen der de Haas deckt sich dies jedoch nicht. Seit etwa 30 Jahren sind sie verheiratet. In dieser Zeit konvertierte Anne, der man ihre Hamburger Herkunft deutlich anhört, zum Judentum. Lange schon fühlte sie sich dazu hingezogen. Sie betont, dass Aaron das nicht für nötig hielt.

In den Jahren nach der Hochzeit lebten sie in der Achterhoek, einer ländlichen Gegend im Osten der Niederlande. Eines Tages fanden sie ein Hakenkreuz auf der Tür ihrer Scheune vor. In diese Periode fiel auch ein Brief, den ein wütender Kunde schickte. Die Vermittlung, für die er Anne und Aaron in seiner Firma angestellt hatte, scheiterte. Wie üblich schickten sie einen Bericht. "Er schrieb zurück, dass man mich wohl vergessen hätte zu vergasen, aber das würde noch kommen."

Ein Satz, der bei Aaron de Haas biografisch bedingt auf einen speziellen Boden fällt. Er, der 1939 Geborene, überlebt die Nazi-Besetzung der Niederlande im Kleinkindalter im Versteck. Gesprochen wird nach der Befreiung nie darüber. Aaron weiß zunächst noch nicht einmal, dass er Jude ist - selbst dann nicht, als er in der Grundschule im Städtchen Hoorn am Ijsselmeer "dreckiger Scheiß-Jude" beschimpft wird.

Vorfälle wie dieser ziehen sich durch sein ganzes Leben. Als er studiert, sitzt er mit Freunden in einer Bar, als ein Mann eintritt. Er bestellt eine nicht ganz vollzählige Runde mit den Worten: "Ein Bier für alle, außer für den Juden dort!" Ein Gerangel entsteht. Die Freunde müssen Aaron auf seinen Stuhl zurückziehen. Großen Anstoß genommen hat sonst offenbar niemand an der Beleidigung. Es ist nicht verwunderlich, dass Aaron sagt: "Ich habe mich immer wie ein Fremder gefühlt."

Keine Sicherheit, wer ihnen wohlgesonnen ist

Es ist die Summe all der Vorkommnisse, die das Paar nun aufbrechen lässt. Und dazu eine politische Situation in Europa, in der Judenfeindlichkeit immer salonfähiger wird. "Ich vergleiche die Lage nicht mit 1939", sagt Aaron de Haas. "Aber ich sehe die Zeichen an der Wand." Schwer fällt der Abschied nicht. Vermissen werden sie ein paar Freunde und die Eiche im Garten. Der Sohn, hoffen sie, könnte ihnen nach dem Studium hinterherziehen. Ansonsten gebe es, so Anne, "eine große Freude" auf Israel. Trotz der Lage, die just zum 70. Geburtstag besonders angespannt ist. Sorgen machen sie sich darüber keine. "Wir fühlen uns dort sicher. Auch, weil man weiß, wer der Feind ist. Hier in Europa wissen wir nie, wer uns wohlgesonnen ist."