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Der baltische Aufschrei oder: Die alten Wunden schmerzen noch

Von Gerhard Lechner

Analysen

Die Etikettierung als "beschissenes kleines Land", Karikaturen, die einen hechelnden, hündisch-devoten rot-weiß-roten Pudel zeigen, der immer bereit ist, einem mächtigen Herrn zu dienen - Österreich bekommt derzeit einiges aus dem Baltikum zu hören.

Und das nicht nur von Leitartiklern und Karikaturisten, sondern auch von ganz oben: "Unsere Gesellschaft in Litauen steht unter Schock", sagte Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite höchstselbst zur Causa um den auf dem Wiener Flughafen festgehaltenen und dann freigelassenen Ex-KGB-Offizier Michail Golowatow. Kein Zweifel: Ein wirkliches bilaterales Problem ist da entstanden.

Offenbar hat man es in Wien vorgezogen, einem Konflikt mit Russland aus dem Weg zu gehen und dabei die Brisanz des Themas im Baltikum unterschätzt. Für Litauen ist der 13. Jänner 1991 ein zentrales Datum, sind die am "Blutsonntag von Vilnius" Umgekommenen Märtyrer für die nationale Unabhängigkeit des Landes - und für den Kampf gegen den Kommunismus, der im Baltikum wie in weiten Teilen Osteuropas als ebenso verbrecherisch empfunden wird wie der Nationalsozialismus.

Dass in Deutschland und Österreich mit einer gewissen Ausschließlichkeit der Untaten des Dritten Reiches gedacht wird, empfinden die vom Kommunismus heimgesuchten Länder als verzerrte Wahrnehmung. Es waren osteuropäische Historiker, die etwa in Deutschland in den vergangenen Jahren Debatten über den Kommunismus ins Rollen brachten. Dass viele Balten bereitwillig mit den Nazis kollaborierten und beim Mord an den Juden assistierten, verschwindet da rasch aus dem Blickfeld. In Lettland etwa sitzt ein hochgeehrter Waffen-SS-Veteran im Parlament.

Im Baltikum liegt der Hauptfeind in Moskau: Die lange, nur in der Zwischenkriegszeit unterbrochene russische Herrschaft ist auch 20 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit stark präsent, der kulturell ganz anders geprägte östliche Nachbar wird misstrauisch beäugt. Insbesondere das tief katholische Litauen, das über Jahrhunderte gemeinsam mit Polen über weite Teile Osteuropas geherrscht hatte, hatte in der UdSSR eine Vorreiterrolle für die Unabhängigkeitsbestrebungen auch anderer Nationen gespielt. Als erste Sowjetrepublik sagte man sich bereits im März 1990 von Moskau los.

Das Problem des Westens mit dem damaligen Aufbegehren der Litauer hat aber außerdem noch einen bekannten Namen: Michail Gorbatschow. Der Friedensnobelpreisträger, der um 1990 herum zusehends nervös wurde und um die Einheit des Gesamtstaates bangte, war als Präsident der UdSSR für die Ereignisse politisch verantwortlich. Litauen will ihm deshalb auch bis heute den Prozess machen. Die Vorstellung, den "Helden des Rückzugs" (Hans Magnus Enzensberger) vor den Kadi zu ziehen, ist aber im Westen nur wenig populär.