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Die zwei Gesichter der Eisenbahn

Von Gerhard Stadler

Analysen
Viele Nebenbahnhöfe in Europa verkommen, und der Bus löst immer öfter den Zug ab, auch auf längeren Distanzen.
© Stadler

Massenverkehrsmittel Bahn darf sich nicht auf Nahverkehr in Ballungszentren beschränken.|Wien als Schnittstelle zwischen modernen und kümmerlichen Strecken.


Wien. Europas Eisenbahnen konzentrieren sich auf den nationalen Fernverkehr, auf Hochgeschwindigkeitsstrecken und auf den Nahverkehr um Großstädte, doch sie verkleinern ihr Streckennetz. Abgesehen von der Schweiz mit hohen Zugfrequenzen auf einem sehr dichten Bahnnetz, das der Siedlungssituation des Landes sehr gut entspricht, ist Europas Personenbahnverkehr seit 20 Jahren in einem tief greifenden, vermutlich irreversiblen Wandel. Er läuft in allen Ländern gleich gerichtet ab, in Westeuropa schneller als im Osten. Charakteristika dieses Wandels sind der Rückzug der Eisenbahnen aus der Flächenversorgung und die Konzentration auf den Pendlerverkehr im Umkreis großer Städte einerseits und andererseits auf nationale Fernverbindungen zwischen den Großstädten mit der Vernachlässigung von Transversalbahnen und Aufgabe von Stichbahnen.

Wegen des Einsatzes von Triebwagenzügen werden Kurswagen nach kleineren Destinationen immer seltener, und die internationalen Verbindungen werden weniger. Auch auf den verbleibenden nationalen Fernstrecken wird die Bedienung von Zwischenbahnhöfen immer rarer (etwa am Arlberg oder Semmering). Diese Ausdünnung ist ein "Rückbau" des Streckennetzes auf den Status von circa 1900. Als Surrogat dafür werden in Westeuropa Hochgeschwindigkeitsstrecken zwischen Großstädten gebaut mit neuen Bahnhöfen im Grünen (wie Tullnerfeld), um die dann oft neue Siedlungen entstehen. Regionalverkehr außerhalb von Ballungsgebieten wird von lokalen Körperschaften aufgrund der "public service obligation" subventioniert und oft auch geführt.

Trotz steigender Mobilität sinken die Fahrgastaufkommen außerhalb der Ballungszentren und abseits der Hochgeschwindigkeitsstrecken und damit die Einnahmen der Bahnen. Dieser Rückgang ist in der siedlungs- wie wirtschaftsgeografischen Entwicklung mitbegründet. Die Besiedlung immer weiterer Flächen und der Bau von Einkaufszentren am Stadtrand verlangen nach anderen Verkehrsmöglichkeiten, als sie die Eisenbahn bereitstellen kann. Es ist heute nur in den seltensten Ausnahmen möglich, allein mit der Bahn vom Ausgangs- zum gewünschten Zielpunkt zu kommen. Ein-, ja mehrfaches Umsteigen ist nötig, mit den Problemen von Fahrplanabstimmung, Zeitverlust und Unbequemlichkeit. Großstadtbahnhöfe werden zwar zunehmend zu Einkaufszentren mit Gleisanschluss, dafür kleinere Bahnhöfe immer unbequemer: unbeheizt, ohne Gaststätten, Toiletten, Gepäckaufbewahrungen, Fahrkartenschalter mit Bedienung und Information, selten behindertengerecht. Den Erwartungen des Reisenden wird damit ebenso wenig entsprochen wie seinem Wunsch nach raschen und direkten Verbindungen, möglichst jederzeit. Letzteres kann die Eisenbahn nicht bieten. Sie konnte es auch früher nicht - nur damals hatte man ein anderes Verhältnis zur Zeit und nahm Unbequemlichkeiten in Kauf.

Das Autofahren ist bequemer und meist auch rascher. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde überall mehr in den Straßen- als in den Bahnbau investiert. Mit Kfz-Dichten von 500 bis 700 je 1000 Einwohnern in Westeuropa (und auch in Osteuropa werden diese Zahlen erreicht werden) hat heute jeder Familie einen oder mehrere Pkw. Für den verbleibenden Personenverkehr ist der (Linien-)Bus durch seine Flexibilität, Größe und Betriebskosten besser geeignet als die Bahn. In Deutschland, wo 2013 der Fernreisebusverkehr voll liberalisiert wird (in Österreich gibt es noch die vom EU-Recht erlaubten Beschränkungen), wird angegeben, dass ein Bus nur 31 Gramm CO2-Emission je Personenkilometer ausstoße, die Bahn 46 Gramm, ein Pkw 138 und ein Flugzeug 356. Auch unsere Bahnunternehmen haben bereits Fernbuslinien: Die Westbahn ersetzt mit Bussen die von den ÖBB eingestellten direkten Züge Graz-Linz, die ÖBB fahren Graz-Klagenfurt und haben einen Schienenersatzverkehr von Villach nach Venedig (obwohl es im Kanaltal eine parallele, neue Eisenbahnstrecke gibt).

Schleichender Abschied vom wirklichen Eisenbahnnetz

Die Bahn ist und bleibt überlegen im Massenverkehr. Doch der ist auf den Nahverkehr in Ballungszentren reduziert. Über größere Entfernungen spielt er sich auf der Straße ab und über noch größere in der Luft. So kamen heuer 79 Prozent der Wintergäste in Tirol mit dem Pkw, 8 Prozent mit dem Flugzeug, 7 Prozent mit dem Bus und nur 5 Prozent mit der Bahn. Nur dort, wo es Hochgeschwindigkeitsstrecken gibt, verschiebt sich auf langen Distanzen die Balance vom Flugzeug zur Bahn, solange die "Systemzeit" - also von Stadtzentrum zu Stadtzentrum - mit der Bahn etwa gleich ist (zum Beispiel London-Paris oder München-Köln).

In der EU wurde der Bahnverkehr voll liberalisiert. Die Praxis zeigt aber, dass im Personenverkehr zu den Staatsbahnen bisher nur wenige Wettbewerber auftreten. Deren Linien sind nicht aufgegebene Strecken im obigen Sinn, sondern Städtepaare mit besonders hohen Passagieraufkommen (Wien-Salzburg Köln-Hamburg, Rom-Florenz-Mailand), also Verbindungen, auf denen die bisherigen Monopolisten einen hohen Deckungsbeitrag erzielten, der wiederum der Stützung anderer Züge diente. Wettbewerb auf solchen Cash-Cow-Verbindungen reduziert diesen Profit und damit die Möglichkeit der Quersubvention anderer Linien. Internationale Eisenbahnunternehmen sind rar - die 1879 gegründete österreichisch-ungarische Raab-Ödenburg-Ebenfurther Bahn ist bis heute eines der wenigen.

Österreich tätigt im Verhältnis zur Bevölkerungszahl wohl die höchsten Investitionen in die Bahninfrastruktur, verteuert noch infolge der Geografie des Landes. Die Investitionen waren und sind konzentriert auf wenige Hauptstrecken und größere Stationen. Der Abschied vom wirklichen Eisenbahnnetz hin zu Radial- ohne Transversallinien und Nebenbahnen ist schleichend und wohl noch nicht beendet (siehe Gesäuse- oder Wachau-Bahn). Er erfolgte zuletzt auch weitgehend ohne politische oder regionale Proteste. Die Bahn tritt langsam aus dem Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung und Interessen an den Rand.

Es wird einiger Anstrengungen der ÖBB bedürfen, damit der potenzielle Reisende eine Bahnfahrt auf den verbleibenden Linien wieder ins Entscheidungskalkül einbezieht. Eine allgemeine Werbelinie wird nicht reichen, sondern Preisaktionen und ein gezieltes Informieren über die Vorteile der "neuen Bahn" werden nötig sein - etwa, dass die "Systemzeit" einer Fahrt von Wien nach München oder Innsbruck nun kürzer ist als mit dem Flieger (und auch das Klima weniger schädigt).

Der Zugang zur Bahn ist auch erschwert, da sogar der Fahrplan fast nur noch aus dem Internet zu erfahren ist - war das ÖBB-Kursbuch 2012 das letzte? Und es bedarf einer Sitzung am PC mit Suchstrategien, um die unterschiedlichen Preise zu eruieren - sie können für dieselbe grenzüberschreitende Fahrt um bis zu 100 Prozent differieren, je nachdem, bei welcher Bahngesellschaft man die Karte kauft. Auch Fahrkartenautomaten sind überall schwierig zu bedienen, doch die der ÖBB dürften sich dabei besonders (dis)qualifizieren.

Kümmerlicher Zustandder Eisenbahnen im Osten

Österreichs Zugverbindungen mit Deutschland, der Schweiz, Tschechien und Ungarn sind gut, doch konzentrieren sie sich seitens der ÖBB auf den Railjet, der als Zwitter zwischen Lok- und Triebwagenzug unflexibel - keine Kurswagen, kaum Anpassungen an Nachfrage-Schwankungen möglich -, wohl auch teuer im Betrieb ist und im Komfort mit den deutschen ICE-Garnituren nicht mithalten kann. Hingegen ist der dichte Nahverkehr in flächendeckenden Verkehrsverbünden sicher das herausragende Plus unseres Personenbahnverkehrs.

In den Staaten um Ostösterreich ist der Zustand der Eisenbahnen kümmerlich, um nicht ein noch traurigeres Wort zu verwenden. Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur erfolgen fast nur in Autobahnen und Flughäfen. Am Balkan gibt es fast nur noch Güterverkehr. In Ungarn, wo Bahnfahren für Senioren ab 65 Jahren gratis ist und der Reisepass als Fahrkarte gilt, Polen und Tschechien erreicht man auf zwei oder drei Hauptstrecken Höchstgeschwindigkeiten jenseits der 100 km/h. Und nur in Tschechien ist das Streckennetz (noch) so dicht wie zu Zeiten der Donau-Monarchie. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr verlagert sich auf Buslinien. Nur zwischen Wien und Warschau ist die Bahn schneller als der Bus, nach Budapest sind die Fahrzeiten gleich, nach Prag, Zagreb oder Belgrad ist der Linienbus schneller - und immer wesentlich billiger.

Ist der neue Wiener Hauptbahnhof daher eine Fehlinvestition? Er wird in einem einstelligen Prozentsatz von der EU mitfinanziert, da in den Korridor 17 (Bratislava-München-Strasbourg) der europäischen Verkehrsinfrastrukturen aufgenommen. Trotzdem wird er den Durchgangsverkehr mit Ost- und Südeuropa über Wien kaum erhöhen. Dieser dürfte auch mittelfristig schwerlich mehr als ein Dutzend internationaler Zugpaare täglich erreichen. Die Strecken von Budapest oder Bratislava nach München, Nürnberg oder Frankfurt werden attraktiver; für Budapest-Zürich wird man bei elf Stunden Railjet-Fahrzeit wohl weiterhin das Flugzeug bevorzugen.

Wo es sonst in der östlichen Nachbarschaft noch internationalen Bahnverkehr gibt, wird Wien bereits jetzt umfahren. Die hohen Trassengebühren in Österreich werden dies nicht ändern. Dazu kommt, dass der Fahrzeitgewinn, außer nach München, Frankfurt oder Zürich, gering wäre. Aber der Wiener Hauptbahnhof wird ein wesentlicher Beitrag zur weiteren Verbesserung des Regionalverkehrs sein: Die Fahrzeit von Bruck/Leitha nach St. Pölten wird mindestens halbiert.

Schwerpunkt 175 Jahre Eisenbahn in Österreich am 23. November im "Wiener Journal"