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Janukowitschs Tabubruch

Von Gerhard Lechner

Analysen

Der ukrainische Präsident hat die Brücken zu seinen Gegnern abgebrochen.


Kiews Zentrum riecht anders. Seit Sonntag. Dominierte vorher der Geruch von Tee, brennendem Holz und warmem Essen, der vom besetzten Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz aufstieg, so riecht es jetzt nach verbranntem Gummi und scharfem Tränengas - ein Beweis dafür, wie sehr sich der Protest gegen Präsident Wiktor Janukowitsch radikalisiert hat. Fanatische nationalistische Gruppen rennen gegen die Polizei an. Teile der ukrainischen Hauptstadt gleichen einem Schlachtfeld.

Kaum jemand scheint eine Ahnung zu haben, wie man in dem politisch tief gespaltenen Land aus der jetzigen Krise wieder herauskommt. Janukowitsch, der aus der russophilen Ostukraine stammt, hat letzte Woche ein ganzes Paket an repressiven Gesetzen beschließen lassen, die sich gegen die Demonstranten richten, aber auch die Bürgerrechte massiv beschneiden. Die Gesetze, die ab Mittwoch gelten, haben den Widerstand der Proeuropäer erst recht angefacht - auch deshalb, weil die führenden Oppositionspolitiker bei den Menschen auf dem Maidan wochenlang Siegeserwartungen weckten, die sie nicht einlösen konnten.

So klingen auch die jüngsten Forderungen der Opposition an Janukowitsch wenig realistisch. Es ist kaum vorstellbar, dass der Präsident sich sofortigen Neuwahlen stellt, Kompetenzen abgibt, seinen Premier feuert und seinen Innenminister ins Gefängnis steckt.

Was Janukowitsch vorhat, weiß niemand. In Kiew blühen wie immer die Spekulationen. Im Pro-EU-Lager heißt es, der Präsident bezahle Schläger und Provokateure, um Autos und Schaufenster zu demolieren und gegen die Protestler vorzugehen. Oppositionspolitiker Vitali Klitschko will selbst zwei davon aufgegriffen haben. Es gibt sogar Gerüchte, die Regierung habe auf umliegenden Hochhäusern Scharfschützen postiert. Umgekehrt soll es im Westen des Landes Hitzköpfe geben, die angeblich dazu aufgerufen haben, sich zu bewaffnen und - wie die kämpferischen Nationalisten der 1940er Jahre - in die Wälder zu gehen.

Dass die Verständigungsbasis zwischen den politischen Lagern in der Ukraine so klein ist, ist auch eine Frucht der Entwicklung seit der Orangen Revolution 2004: Zunächst brüskierte Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko mit seiner strikt prowestlichen Politik die Russophilen, dann ließ Janukowitsch als Präsident seine Rivalin Julia Timoschenko verhaften - ein politischer Tabubruch: Zuvor galt als Modus vivendi, dass man seinen politischen Gegner in Ruhe lässt - schon um nicht selbst eingesperrt zu werden, wenn sich der politische Wind dreht. Diesen Modus vivendi hat Janukowitsch aufgekündigt. Was ihm jetzt noch bleibt, ist die Repression - eine Taktik, die in dem gespaltenen Land äußerst riskant ist.