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Ein Missverständnis

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Andere Länder, andere Sitten: "Die Bilanz der großen Koalition ist zwar viel besser als ihr Ruf, doch der kulturelle und politische Flurschaden ist zu groß, und wer das nicht glaubt, sollte sich die verheerenden Nebenwirkungen großer Koalitionen in Österreich anschauen." Mit diesen Worten warnt der Leitartikel der aktuellen "Zeit" vor der Neuauflage einer schwarz-roten Regierung in Deutschland nach der Bundestagswahl am Sonntag. In Österreich reden alle vom drohenden "kulturellen und politischen Flurschaden" durch die Alternativen zur großen Koalition: Schwarz-Blau oder Rot-Blau.

Österreich und Deutschland haben ein ähnliches Problem: die kurzfristigen Erfordernisse einer stabilen Regierung mit den langfristigen Interessen der Demokratie in Einklang zu bringen. Die Zusammenarbeit der beiden Volksparteien (wenn man sie denn noch so nennen kann) ist für das eine ein Segen und für das andere Gift.

Dass Deutschlands politische Mitte von rechten und linken Populistentruppen in die Zange genommen wird, dafür tragen Union und SPD die Verantwortung. Und der Aufstieg der FPÖ zu einer Partei mit 20-Prozent-plus ist wohl auch nicht wirklich der herausragenden Sacharbeit der blauen Funktionäre zu verdanken, sondern der hartnäckigen Weigerung von Rot und Schwarz, die bekannten Mängel im Land anzugehen. Wer eine Antwort auf die Frage sucht, warum nur eine Partei von der Unzufriedenheit profitiert, obwohl es doch eigentlich vier Oppositionsparteien gibt, der kann sich vertrauensvoll an Grüne, Neos und Team Stronach wenden. Alle drei werden verlässlich mit dem Finger auf alle anderen zeigen. Und womöglich nicht einmal die Frage verstehen.

Das hängt mit einem Missverständnis zusammen, das sich in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten in der etablierten Politik eingeschlichen hat. Es ist schon gut und richtig, dass Parteien den Wählern ein Angebot darüber machen, wie sie schalten und walten würden, wenn sie nur dürften. Aber mindestens genauso wichtig ist es, dass sie die Stimmungen und Bedürfnisse aufnehmen, die die Bürger umtreiben. Oder anders formuliert: Zuhören und Aufnehmen ist mindestens so wichtig wie Predigen und Erklären. Denn wenn die Politiker eh alles am besten wissen, braucht es ja eigentlich ohnehin keine Abstimmungen. Das wird aber hoffentlich keiner wirklich von sich glauben.