Zum Hauptinhalt springen

Europa in der Sinnkrise

Von Michael Schmölzer

Politik

Ein EU-Land reicht das Flüchtlingsproblem an das andere weiter. Ist das gemeinsame Projekt gescheitert? Eine Analyse.


Wien. Wenn es um Flüchtlinge geht, ist sich in Europa jeder selbst der Nächste. Das wurde beim Treffen der EU-Innenminister am Montag in Brüssel einmal mehr unter Beweis gestellt. Nach sieben Stunden Verhandeln war das Resultat war gleich null. Die Mitgliedsländer konnten sich nicht auf eine verbindliche Quote zur Verteilung von 160.000 Migranten einigen, man beschränkte sich auf unverbindliche "Empfehlungen". Beschlossen wurde, dass 40.000 Migranten aus Griechenland und Italien in andere EU-Länder umgesiedelt werden - allerdings gibt es auch hier keine fixen Quoten.

Eine unerwartete Entscheidung ist trotzdem gefallen: Die Türkei, obwohl offiziell EU-Kandidat, ist aus Sicht der EU nicht mehr sicheres Drittland. Das wegen der Kämpfe zwischen Armee und der PKK, die seit Wochen im Osten des Landes toben. Rund zwei Millionen syrische Flüchtlinge sind, teilweise in Lagern, in der Türkei. Dorthin können sie jetzt nicht zurückgeschoben werden.

Die EU will das Problem aussitzen

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in seiner fulminanten Rede "Zur Lage der Union" vergangene Woche in Straßburg mehr als ein Mal darauf hingewiesen, dass die Zeit drängt. Es müsse in der Flüchtlingsfrage jetzt gehandelt werden und es müssten jetzt gemeinsame Entschlüsse gefasst werden. Man hat allerdings den Eindruck, dass die EU-Länder das Problem einfach aussitzen wollen. Den nächsten EU-Innenminister-Gipfel wird es am 8. Oktober geben, ein Sondergipfel auf höchster Ebene wurde zwar angekündigt, ist aber nicht in Sicht. Wobei Donald Tusk in seiner Rolle als EU-Ratspräsident blass bleibt. Das Bild, das sich aufdrängt, ist fatal: Es wird verschleppt und auf lächerlich geringen Migranten-Zahlen herumgeritten, anstatt das Problem wirklich anzupacken.

Unterdessen greifen die EU-Mitgliedsländer zum Mittel der Selbsthilfe. Und sind völlig überfordert. Ungarn errichtet einen Zaun an der Grenze zu Serbien und ruft den Krisenzustand aus. Österreich und Deutschland führen Grenzkontrollen ein. Kilometerlange Staus sind die Folge. Auch die Slowakei sieht sich jeden, der aus Österreich und Ungarn kommend einreist, genau an. Polen und Sachsen sind zu einem derartigen Schritt bereit. Man fühlt sich fatal an die Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhanges erinnert. Dabei wird das Problem nicht gelöst, sondern einfach nur weiter gereicht.

Das nimmt unmenschliche Züge an, wie in Ungarn und Serbien. Ungarn hat die Grenze zu seinem südlichen Nachbarn schon am Montag dichtgemacht und illegale Migration zum Verbrechen erklärt. Nun will man einen Großteil der Ankommenden nach Serbien zurückschicken. Belgrad kündigt an, dass man die Flüchtlinge, die ihren Fuß auf ungarisches Territorium gesetzt haben, sicher nicht zurücknimmt. Noch ist niemand ums Leben gekommen, aber es besteht die Gefahr, dass die Migranten irgendwann in einer Art Niemandsland sich selbst überlassen sind und unter unwürdigen Bedingungen dahinvegetieren. Dazu kommt, dass eine Politik der Abschottung immer sofort Schlepper auf den Plan ruft und die Reise für die Flüchtlinge zunehmend teuer und gefährlich wird. Die 71 Todesopfer an der österreichischen A4 hat es deshalb gegeben, weil Migranten Angst vor Kontrollen und Abschiebung hatten.

Die Grenzkontrollen im Fall Österreich und Deutschland haben unter den gegebenen Bedingungen trotzdem eine gewisse Berechtigung: In Ermangelung eines Quotensystems auf EU-Ebene muss der Zustrom an Flüchtlingen mit andern Mitteln gesteuert werden. Dass es eine Form der Regulierung des Zustroms braucht, ist unter den meisten Migrationsexperten unbestritten.

Griechenland und vor allem Ungarn haben zuletzt viel Kritik an ihrem Umgang mit Flüchtlingen einstecken müssen. Auch Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Athen die aus der Türkei kommenden Migranten einfach weiterschicken würde. Die EU-Randstaaten haben über Monate darauf hingewiesen, dass man sich allein gelassen fühle. In der Tat hat man dem Problem in Wien und Berlin erst dann wirklich Aufmerksamkeit geschenkt, als die Flüchtlinge scheinbar wie aus heiterem Himmel an der eigenen Grenze auftauchten.

Stellt sich die Frage, inwieweit das derzeitige Versagen die Existenz der EU gefährdet. "Wenn Europa an dieser Herausforderung, der wir uns zu stellen haben, scheitert, dann gibt es in dieser Form kein Europa mehr", meint der luxemburgische Außenminister Jean Assleborn. Alles, was nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden wäre, falle dann in sich zusammen. "Entweder scheitert Europa an der Flüchtlingsfrage oder wir lösen gemeinsam diese große Herausforderung", meinte die österreichische Innenministerin Johann Mikl-Leitner. Schöne Worte, doch hier ist, wie auch in anderen Ländern, eine unglaubliche Doppelbödigkeit bemerkbar. So hat Robert Fico, Premierminister der Slowakei, seine Karriere als Jurist am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begonnen. Der gleiche Mann, dessen Regierung jetzt das Grundrecht auf Asyl in der Slowakei nur Christen gewähren will.

In der Tat tritt zutage, dass die soziale Dimension der Europäischen Union vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Nicht umsonst wird von vielen Seiten darauf hingewiesen, dass sich die Euro-Finanzminister im Finale der letzten Griechenland-Krise beinahe täglich getroffen haben, der Lösungswille in der Flüchtlingsfrage aber bei weitem nicht so ausgeprägt ist.

Da hilft auch der Appell Jean-Claude Junckers nichts, der in Straßburg auf die nahende Winterkälte hinweist. Und darauf, dass es sich hier um Menschen handle. Juncker sieht das gemeinsame Projekt Europa wohl wie kein anderer in Gefahr.

Mit Kanonen auf Schlepper schießen?

Bezeichnend ist, dass man sich in der EU relativ schnell auf eine Art Kriegseinsatz im Mittelmeer einigen konnte. Dabei sollen mithilfe von Kriegsschiffen Schlepper-Boote aufgestöbert und gegebenenfalls versenkt werden. Wie das die Problematik lösen soll und was mit den Migranten auf den Schiffen geschieht, bleibt im Dunkeln. Eine gemeinsame EU-Außenpolitik, die das Problem an der Wurzel packt und in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ansetzt, gibt es nicht.

Einheitliche Regeln zur Abwicklung von Asylverfahren gibt es auch nicht. So wird Ungarn künftig innerhalb von 24 Stunden über Asylanträge entscheiden. Eine derartige Vorgangsweise kann nicht gewissenhaft sein und stößt wohl überall in der EU auf Kopfschütteln. Die italienische Lega Nord geht einen anderen Weg. Sie fordert die Verhängung von lebenslänglichen Haftstrafen für Schlepper. "Menschenhändler würden es sich hundertmal überlegen, bevor sie Boote mit Flüchtlingen beladen", heißt es hier. Dass Schlepper aus Angst vor drakonischen Strafen aufgeben, scheint allerdings nicht realistisch.

Die Frage ist auch, ob es jetzt in der Flüchtlingsfrage zu einem "Kerneuropa" oder einem "Staatenbund der Willigen" kommt. Dieser Idee wohnt aber immer die Gefahr einer Spaltung inne. Schon jetzt ist der Vertrauensverlust zwischen den EU-Staaten enorm, die Kommunikationskanäle werden reduziert oder gekappt. Die Entscheidungen - auch die Deutschlands, die Grenze zu Österreich zu schließen - kommen als Überraschung.

Möglich wäre, dass die baltischen und die osteuropäischen Visegrad-Staaten beim nächsten Innenminister-Treffen im Oktober in der Quoten-Frage einfach überstimmt werden. Stellt sich die Frage, ob man Staaten zwingen kann, eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Auch die Streichung von Fördermitteln steht im Raum, in Prag und Bratislava lässt man sich davon aber nicht beeindrucken.

"Krise zwingt Europäer, über sich selbst nachzudenken"

Mehr denn je stellt sich jetzt die Frage, ob die EU eine politische Union sein will oder nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, deren Mitgliedstaaten von einem schrankenlosen Binnenmarkt und großzügigen Förderungen aus Brüssel profitieren. Optimisten verweisend darauf, dass eine Krise immer auch große Chancen beinhaltet. So schreibt der "Spiegel" in seiner Online-Ausgabe: "Wenn man dem Flüchtlingsdrama überhaupt etwas Positives abgewinnen will, dann vielleicht dieses: Es zwingt die Europäer, über sich selbst, über ihr Verhältnis zueinander und ihr Verhältnis zum Rest der Welt nachzudenken. Und wenn alles gut geht, kommt am Ende eine EU dabei heraus, die Menschen aus guten Gründen anzieht und daraus ihre Stärke bezieht."