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Was schiefläuft in Österreich

Von Walter Hämmerle

Analysen

Innenansichten aus dem Maschinenraum der Republik.


Staatsversagen ist ein großes Wort. Ziemlich sicher ein zu großes, um den Zustand der Republik zu beschreiben. Aber das Räderwerk des Landes stottert, und mitunter verkeilen sich die Räder auch ineinander. Das extremste Beispiel ist sicherlich das Systemversagen rund um die Kärntner Hypo, doch es gibt auch den Blindflug im Bereich der Länderfinanzen und eine Bürokratie, die immer öfter sich selbst und andere lähmt. Wie, das hat etwa die Flüchtlingskrise in den vergangenen Wochen aufgezeigt. Zum Bild Österreichs als eines der erfolgreichsten Länder weltweit ist das allein kein Widerspruch. Aber es differenziert, zumal die Probleme am Kern des Institutionengefüges der Zweiten Republik rühren.

Österreichs öffentlicher Dienst etwa gilt als eine der Säulen, auf denen dieses Land ruht; das war schon in der Monarchie so und ist heute nicht viel anders. Doch diese Stütze des Staates weist Schräglage auf: "Die Bundesverwaltung hat sich, zum Teil zumindest, in eine nicht besonders gute Richtung entwickelt", stellt Clemens Jabloner fest. Der ehemalige Präsident des Verwaltungsgerichtshofs und jetzige Professor am Juridicum spielt auf das besondere Vertrauen an, welche das Verhältnis zwischen der Beamtenschaft eines Ministeriums und dessen politischer Führung einst prägte. "Das existiert heute nur mehr vereinzelt."

Beamte - Säule in Schräglage

Früher habe die Verwaltung eine gewisse Balance zwischen sachlicher Aufgabenerledigung und notwendiger Ministerloyalität besser wahren können. Heute dagegen, so Jabloner, "gibt es in manchen Ministerien fast keinen unmittelbaren Kontakt mehr zwischen den Sektionschefs und ihrem Minister. Dazwischen hat sich eine immer größere Schicht von Ministersekretären gedrängt, oft Medien- und PR-Berater, aber zu wenige Juristen." Die Folgen? "Eine ungeheure Kurzatmigkeit der Politik samt Entscheidungen, die sich nicht mehr an den sachlichen Erfordernissen orientieren." Das ist, findet jedenfalls Jabloner, ein großes Problem.

Journalisten sind mit dem Vorwurf der Überforderung bei Politikern schnell bei der Hand. Doch meist geht es nicht um persönliche Kompetenz, sondern um strukturelle Bedingungen. Die Gesetzgebung ist ein Teil davon, und noch mehr, seit der Zeitdruck -und damit die Fehleranfälligkeit - enorm gestiegen ist. Parlamentarismus-Experte Werner Zögernitz formuliert es so: "Die Überforderung beginnt mit dem Beamten, der in der Ministerialbürokratie den Entwurf für ein Gesetz verfasst, und endet mit dem Beamten, der die Vorschrift umsetzen muss." "Viel zu viel" werde hierzulande gesetzlich geregelt, bemängelt Zögernitz - und zieht den Vergleich mit Deutschland: Das Grundgesetz wurde seit 1949 kaum verändert, während Österreich mehrmals pro Jahr Verfassungsbestimmungen beschließt.

Aus einer anderen Perspektive wandelt sich die Regulierungswut zur Angst der Politik vor klaren Entscheidungen. Für Eckart Ratz, Präsident des Obersten Gerichtshofs, verzichten Politiker vor lauter Angst, dass der Verfassungsgerichtshof die Bestimmung aufhebt, lieber gleich auf eine Regelung - in der Hoffnung, die Gerichte werden das schon regeln. "Das ist so, wie wenn die Strafprozessordnung lediglich vorschreiben würde, der Richter solle fair sein und ein gerechtes Urteil sprechen", findet Ratz. Und er nennt ein bekanntes Beispiel: "Ob das christliche Kreuz in die Klassenzimmer gehört, kann nur politisch entschieden werden, nicht juristisch." Das scheint unbewusst sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu ahnen, schließlich hat er in erster Instanz gegen Kreuze in italienischen Klassenzimmern entschieden und, als das erste Urteil angefochten wurde, in zweiter dann dafür. Ein Beitrag für mehr Rechtsklarheit sieht anders aus, zumal die meisten Urteile des EGMR nie angefochten werden.

Dass Rechtsentscheidungen immer öfter als Unrecht gesehen werden, weil das Gefühl besteht, dass sich das Recht nicht mehr durchsetzen lasse, wundert Ratz nicht: "Je uneinheitlicher ein Rechtsmittelgericht entscheidet, desto mehr Rechtsmittel zieht es an. Das ist ein alter Hut. Und wenn sich niemand mehr auskennt, agieren Anwälte und die gesamte Gesellschaft umso unsicherer." Zur Freude der Rechtsberufe. So kann man natürlich auch das Bruttosozialprodukt steigern.

Recht - und es kommt nicht, kommt nicht

Die erst zu Jahresbeginn erfolgte Einführung des Rechts auf Gesetzesbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof ist ein Beispiel, wie gut gemeinte Neuerungen zu problematischen Folgen führen können. Für Ratz führt die Individualbeschwerde zur Verschiebung von Verantwortlichkeit bei der Prüfung von Verfassungs- und sonstiger Grundrechtswidrigkeit. Diese Prüfung gehörte bisher zur Kernaufgabe der ordentlichen Gerichte. Nun sieht Ratz die Gefahr, dass bei Richtern das Gefühl einschlägiger Verantwortung, die man bisher ganz nebenbei und sozusagen umsonst bekommen habe, tendenziell verloren gehen könnte. Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof vor Jahren ein Recht auf Individualbeschwerde gleich im Strafverfahren selbst und dessen höchstgerichtliche Überprüfung durch den OGH eingeführt. Damit sei nicht nur das Grundrechtsbewusstsein im Strafprozess erhöht, sondern auch einer Überlastung des Verfassungsgerichtshofs entgegengewirkt worden, ist Ratz überzeugt. Und er befürchtet nun, dass der Einführung der Individualbeschwerde nur höhere Kosten und längere Verfahrensdauer, am Ende aber kaum ein fassbarer Gewinn gegenüberstehen könnte. Sein Resumee: "Indem immer noch eine Instanz und noch eine Instanz in der Rechtsprechung hinzugekommen ist, steuern wir heute auf eine völlig hypertrophe Situation. Vor allem die Verantwortlichkeit droht so abhanden zu kommen."

Vorschrift ist Vorschrift -die gefesselte Republik

Die Bürokratie hat in Teilen ihre Fähigkeit zu schnellem Handeln eingebüßt. Im Zuge der Flüchtlingskrise kommen die Defizite besonders deutlich zutage. Pragmatische und sinnvolle Lösungen wie etwa der Aufbau von Containern oder die Nutzung geeigneter, aber anders gewidmeter Immobilien werden erschwert, gar verhindert, weil Beamte auf die Einhaltung sämtlicher Bestimmungen pochen. Subjektiv verständlich, schließlich droht ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs. Und ÖBB-Chef Kern hat eine Latte an anonymen Anzeigen wegen Untreue am Hals, weil er unbürokratisch die Flüchtlinge nach Deutschland transportierte.

Die enge Gesetzesbindung der Verwaltung hat den Zweck, den Spielraum der Bürokratie möglichst gering zu halten, um Willkür zu unterbinden. Allerdings hat die Republik mittlerweile das Problem, dass sich die Verwaltung durch ihre Verordnungsdichte selbst lahmzulegen droht. Diese Befürchtung bestätigt Volksanwältin Gertrude Brinek. "Welche Folgen eine Norm in der Praxis hat, spielt bei der Ausarbeitung keine Rolle. Hauptsache, es gibt eine Regelung." Tatsächlich weiß in Österreich niemand, wie viele neue Regelungen landesweit jährlich neu produziert werden.

Soll also der Verwaltung mehr Ermessensspielraum zugestanden werden? Für Jabloner wäre das ein Nullsummenspiel: "In dem Moment, wo mehr Ermessen bei der Verwaltung besteht, steigt der Aufwand für die Judikatur - und umgekehrt. Sie verschieben also nur den normativen Aufwand letztlich zu den Gerichten. Die Leute streiten, und zwar dauernd und über alles. Das kann man nicht einfach wegwischen."

Also gar keine Lösung? Auch OGH-Präsident Ratz ist skeptisch: "Ich weiß es nicht, ich sehe nur, dass vor der Lösung komplexer Fragen zurückgeschreckt wird und die Verfahrensdauer - man denke nur an komplexe Strafverfahren - steigt. Es wird nicht mehr entschieden. Die Folge dieser Unsicherheit ist, dass alle Beteiligten sich mit Rechtsberatern umgeben. Sogar für einfachste Sachfragen werden Anwälte herangezogen." Stattdessen, findet Ratz, müsse man sich klar werden über die richtige Machtaufteilung: "Eine Gesellschaft benötigt ein Arbeitsprogramm - die demokratisch legitimierte Politik - und ein Anti-Viren-Programm, also die Justiz, die im Bedarfsfall eingreift. Problematisch wird es jedoch, wenn sich das Schutzprogramm nur noch selbst kontrolliert und nicht das Arbeitsprogramm."

Jabloner ist weniger pessimistisch: "Ich glaube, dass es im Großen und Ganzen noch funktioniert." Allerdings nicht ohne Seitenhieb: "Dies genauer zu untersuchen, wäre eigentlich Aufgabe einer seriösen Politikwissenschaft, die aber in Österreich zu wenig betrieben wird."

Doch wie ist Österreich überhaupt in diese Situation geraten? Jabloner nimmt die verfehlte Personalpolitik ins Visier: "Die Republik, vom Bund bis zu den Ländern, braucht die besten Köpfe. Natürlich kann die öffentliche Hand nie so gut zahlen, wie es die Privatwirtschaft tut. Daher muss der Staat andere Vorteile bieten können, etwa Sicherheit und einen gewissen Status. Doch das wurde untergraben, durch einen teils unsinnigen Ausgliederungswahn." Dabei will Jabloner Ausgliederungen nicht grundsätzlich die Berechtigung absprechen, doch etliche seien nur deshalb erfolgt, "um außerhalb des Beamtenschemas Posten zu schaffen". Und noch eine Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre ist dem ehemaligen Verwaltungsrichter ein Dorn im Auge: die Aufblähung der Ministerbüros. Dadurch sei es zu einer Tagespolitisierung gekommen, was wiederum dazu geführt habe, dass die Beamten nicht mehr ernst genommen worden seien.

Volksanwältin Brinek will die Beamten dagegen nicht völlig aus der Verantwortung entlassen. Vor allem das Dienstrecht erweise sich als regelmäßig als Hindernis für eine effiziente und bürgernahe Verwaltung: Aufgrund der Arbeitsplatzbeschreibung sei etwa der Tätigkeitsbereich eines Beamten "fast in Stein gemeißelt". Darunter, so Brinek, leide die Flexibilität: "Dass einstige Arbeitsbereiche wegfallen und neue hinzukommen, dieses Denken ist dem Top-Down-Beamtenapparat völlig fremd." Die Lösung sieht sie in der Schaffung eines einzigen Amtes für alle Bundesbediensteten, um die Arbeit der Verwaltung flexibel auf alle Köpfe aufzuteilen. Weil dies derzeit unmöglich sei, komme es häufig zum Zukauf externer Leistungen. Dem widerspricht Jabloner, der ausreichend Möglichkeiten sieht, Beamte flexibel einzusetzen. "Und", so der ehemalige VwGH-Richter, "natürlich kann man das Dienstrecht ändern." Das Problem sieht er im Planstellen-Fetischismus der Politik: "Es geht immer nur darum, Köpfe einzusparen, die Kosten der ausgegliederten Dienstleistungen wandern oft in den Sachaufwand. Ob die Kosten für die Steuerzahler dadurch immer gesenkt wurden und die Arbeit in der gleichen Qualität ausgeführt wurde, bezweifle ich stark."

In einem Punkt sind sich Brinek und Jabloner aber einig: Beide stellen einen Mangel an Führung in der Republik fest, der schon bei der Bundesregierung beginne. Jabloner: "Die Art, wie sich die Bundesregierung organisiert, ist suboptimal. Die Regelung mit den Spiegelressorts (wo sich SPÖ und ÖVP gegenseitig kontrollieren und koordinieren, Anm.) führt zu Schwerfälligkeit des gesamten Apparates. Und auch das Bundeskanzleramt übt seine durchaus vorhandenen Koordinierungsmöglichkeiten zu zaghaft aus." Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Koordinationskompetenz bei Notfällen bis 2002 im Kanzleramt angesiedelt war und seitdem im Innenministerium residiert. Es macht aber eben einen Unterschied aus, ob der Regierungschef koordiniert oder ein Minister.

Falscher Föderalismus -ein teurer Sündenfall

Aber natürlich lässt sich nicht über den Zustand der Republik debattieren, ohne auch den heimischen Föderalismus zu thematisieren. "Im Laufe der Jahrzehnte", so Clemens Jabloner, sei im Verhältnis zwischen Bund und Ländern etwas entstanden, das es im Föderalismus eigentlich gar nicht geben sollte: "Die Länder verbündeten sich untereinander gegen den Bund. Und das Mittel zu diesem Zweck ist die Landeshauptleute-Konferenz, die von der Verfassung gar nicht vorgesehen ist und zu dieser sogar querliegt." Für den erfahrenen Verwaltungsrichter eine Entwicklung mit negativen Folgen. Als der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl kürzlich sinngemäß erklärte, dass die Bundesregierung doch bitteschön auszuführen habe, was die Konferenz der Landeshauptleute beschließe, war dies nur der Höhepunkt einer lang anhaltenden Entwicklung.

Für die Finanzverfassung der Republik sollte diese Entwicklung dramatische Auswirkungen haben. Dabei war schon die Finanzverfassung der Ersten Republik gekennzeichnet von der Angst, dass die Länder durch Verschuldungen den Gesamthaushalt durcheinanderbringen könnten. Gegen diese Angst gab es damals starke Instrumente, heute jedoch nicht mehr, wie Jabloner erläutert: "Diese wurden in den letzten Jahrzehnten nach und nach abgebaut und unterspült. Und zugleich hat man Aufsichtsmöglichkeiten des Bundes über die Länder immer nachlässiger ausgeübt, bis man sie Ende 2012 abgeschafft hat."

Die Auswirkungen lassen sich an der Vorgeschichte zur Pleite der Hypo Alpe Adria nachzeichnen: "Ein Gesetz wie das Kärntner Haftungsgesetz muss den Beamten aufgefallen sein", ist Jabloner überzeugt. "Es ist unmöglich, dass im Finanz- und Justizministerium sowie im Verfassungsdienst im Kanzleramt nicht gesehen wurde, welches Desaster diese Landeshaftungen verursachen können. Und man hat nicht einfach die Einspruchsfrist verstreichen lassen, sondern auch noch ausdrücklich zugestimmt. Das war, unbeschadet der Haftungsfrage, ein schwerer Sündenfall." Und der ehemalige Verwaltungsrichter nennt noch ein Beispiel: "Die Verfassungsänderung beim Durchgriffsrecht des Bundes zur Unterbringung von Flüchtlingen ist im Kern die Wiederherstellung der Verfassungslage, wie sie für bundeseigene Gebäude bis Ende 2012 bestand. Das Gerede von einem ,entsetzlichen Eingriff in die Autonomie der Gemeinden‘ ist deshalb ein Unsinn, weil es das bis 2012 schon gegeben hat."

Doch warum hat die Politik all diese Fehlentwicklung nicht erkannt beziehungsweise gegengesteuert? Jabloner: "Das Problem liegt nicht im Föderalismus, wie ihn die Bundesverfassung vorgibt, sondern in der Entwicklung von parallelen Machtstrukturen. Seit einem halben Jahrhundert ist kein Landeshauptmann mehr in die Bundesregierung gegangen, das allein ist doch bezeichnend."

Mut bleibt eine zentrale politische Kategorie. Ohne wird sich die Republik nicht erneuern.