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Mauerbauern

Von Walter Hämmerle

Analysen
Patrick Ward/Corbis

Über den Drang des Menschen, Grenzen zu ziehen und Mauern zu errichten.


Philosophen verfügen über das seltene Talent, noch den schönsten Streit ins existenzielle Nirvana zu entführen: Während ganz Europa sich über die Rückkehr nationaler Grenzen in den Haaren liegt und den Bau neuer Mauern, Zäune oder "Türln mit Seitenteilen" (dieses Copyright gebührt Bundeskanzler Werner Faymann) heftig debattiert, kann man die Sache natürlich auch so sehen: "Grenzen sind die Voraussetzung jeder menschlichen Erkenntnis", findet der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, der es irgendwie schon auch wissen muss. Immerhin hat er 2012 mit "Lob der Grenze" ein einschlägiges Buch geschrieben.

Simple Form, komplexe Botschaft

Die aktuelle Auseinandersetzung dreht sich um ein handfesteres Verständnis von Grenzen. Gemeint sind die Mauern, Zäune und Grenzkontrollen, die beim verzweifelten Versuch, die Flüchtlingsströme zu bewältigen, quer durch das angeblich vereinte Europa wieder hochgezogen werden. Das Problem mit Mauern und Zäunen aller Art liegt in ihrer Ambivalenz. Rein materiell könnten sie simpler nicht sein. Steine, Eisen und Mörtel oder, noch einfacher, Holz und Erde: Mehr braucht es eigentlich nicht. Bis heute. Obwohl der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind, wie jene "Mauer" aus Eis beweist, der George R. R. Martin in seiner "Game of Thrones"-Serie eine zentrale Rolle zuweist.

Doch so einfach sie zu errichten sind, so vielfältig und komplex, so widersprüchlich und trügerisch sind die Ziele und Ideen, die dahinterstecken. Ohne Mauern und Grenzen, natürlichen wie künstlichen, ließe sich die Geschichte der menschlichen Beziehungen nicht sinnvoll erzählen. Kein Wunder, dass sie es in fast allen Kulturen ins kollektive Gedächtnis, mitunter sogar ins kollektive Unterbewusstsein geschafft haben. In "Mauern als Grenzen" (Mainz 2009) hat die deutsche Altorientalistin Astrid Nunn den spannenden Versuch unternommen, das Thema beginnend mit den Kulturen des Alten Orients bis in die Gegenwart umfassend zu analysieren und zu bewerten.

Da wären die mythischen Mauern von Jericho und Troja: die einen so schwach, dass sie schon der Schall der Hörner Josuas zusammenfallen ließ; die anderen so unüberwindlich, dass die Griechen sie nach zehn Jahren Belagerung nur durch eine List überwinden konnten. Die Mauer an den Thermopylen, wo 480 v. Chr. der Spartanerkönig Leonidas den Vormarsch der Perser entscheidend verzögerte - und so vielleicht überhaupt erst ermöglichte, dass wir heute noch von einer europäischen Kultur sprechen können. Die römischen Grenzwälle gegen Germanen (Limes) und Pikten (Hadrianswall) in Schottland, die wohl eher einen durchlässigen Grenzraum markierten. Nicht zu vergessen Chinas Große Mauer, deren Teile über 2000 Jahre hinweg errichtet wurden und das Reich der Mitte vor den zahllosen Einfällen der Nomaden schützen sollten.

Und dann natürlich die Mauer gewordenen Symbole aus unserer Zeit: jene in Berlin sowie der Eiserne Vorhang, mit dem die sowjetischen Satellitenstaaten ihre Bürger zu Zeiten des Kalten Kriegs einzäunten; der High-Tech-Zaun, mit dem die USA die illegalen Einwanderer an der Grenze zu Mexiko abschrecken wollen; das Mauerlabyrinth, das Israel seit Jahren auf Palästinensergebiet errichtet, um politische Ansprüche zu untermauern und Anschläge zu verhindern. Und eben auch all die neuen Zäune, die an den Außengrenzen der EU - in Griechenland, in Bulgarien und in Ceuta und Melilla, die beiden spanischen Exklaven in Nordafrika.

Mauern sind geradezu perfekte Projektionsflächen: Je nach Standpunkt können sie Identität stiften und Schutz gewährleisten oder aber eben ausschließen und einsperren. Normalerweise bestimmt auch hier der Standort den Standpunkt, aber wenn die Propaganda nur geschickt genug ist, können Mauern auch für ein dieselbe Gruppe beides zugleich sein: Gefängnis und Schutzwall. Nordkorea demonstriert heute noch vor, wie dieses Kunststück funktionieren kann.

Mauern wirken, aber nicht immer und ewig

Relativ eindeutig ist dagegen die Antwort auf die Frage, ob Mauern auch wirken. Nicht immer und überall und schon gar nicht auf ewig, aber grundsätzlich eigentlich schon. Sonst würden sie nicht seit Anfang der Geschichte bis in die jüngste Gegenwart errichtet werden. Die Energie zum Bau muss nur direkt proportional zur Entschlossenheit all jener ausfallen, die die künstlichen Hürden überwinden wollen. Die Frage müsste deshalb nicht lauten, ob wir einen funktionierenden Zaun bauen können (eine Gesellschaft, die imstande ist, ins Weltall zu fliegen, kann auch massive Mauern bauen). Die Frage muss lauten, ob wir das tatsächlich wollen sollen.

Das ist insbesondere im Hinblick auf die jüngere Geschichte Europas eine heikle Frage, hat doch der europäische Integrationsprozess einen Gutteil seiner politischen Legitimation aus dem Abbau von externen und internen Grenzen bezogen. Vor diesem Hintergrund grenzt der Ruf nach neuen Grenzen für viele an Verrat an den Idealen Europas.

Der Schriftsteller Robert Menasse hat sich dem Bau eines grenzenlosen Europas verschrieben; diesem Ziel hat er sogar einen eigenen Dokumentarfilm gewidmet ("Grenzfälle" 2012). Für den Schriftsteller sind Grenzen, vor allem die nationalen, letztlich etwas Unnatürliches. "Die einfachsten Dinge sind in Vergessenheit geraten. Wir wissen heute, in welchen Abgrund uns der Nationalstaat geführt hat, deshalb ist es unsere Aufgabe, diese Form zu überwinden", erklärte Menasse damals in einem Interview mit dieser Zeitung.

Der Philosoph Liessmann sieht diese Haltung skeptisch: "Grenzen zu ziehen, sei es in der Wirklichkeit, sei es im Denken, gilt als unfein. Der Zeitgeist will Grenzen überschreiten, beseitigen, aufheben, zum Verschwinden bringen", schreibt er im Vorwort zu "Lob der Grenze". Und was dann folgt, klingt wie ein guter Rat für die aktuelle Debatte: "Es lohnt sich deshalb, einmal darüber nachzudenken, wie alles begann, wann, wo und warum erste Grenzen gezogen werden müssen, wann und unter welchen Bedingungen Grenzen aufgehoben oder überschritten werden können, wer durch Grenzen ausgeschlossen, aber unter Umständen auch geschützt werden kann, entlang welcher Bruchlinien im Denken und in der Wirklichkeit die Grenzen unserer Tage verlaufen, wo, im Kleinen wie im Großen, in einer Stadt und in Europa, in der Gegenwart und in der Zukunft Grenzen virulent sind und wann wir an äußerste Grenzen stoßen, die, weil unüberschreitbar, keine Grenzen mehr sind." Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die starken Emotionen, die angesichts der scheinbar endlosen Flüchtlingsströme in Richtung Europa die Debatte prägen, lassen dafür nicht genug Energie mehr übrig.

Die Krise als Rendezvous mit der Realität

Wenn stimmt, dass "Regieren ein Rendezvous mit der Wirklichkeit" sei, wie es der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble den verträumten Griechen von der linkspopulistischen Syriza ins Stammbuch geschrieben hat, dann könnten auch Krisen ein Stelldichein mit der realen Welt bewirken. In Sonntagsreden und Schönwetter-Phasen der Politik können schon einmal die Grenzen zwischen Traum und Ist-Zustand verschwimmen. So unbarmherzig, wie die Finanz- und Schuldenkrise die Defizite der europäischen Währungsgemeinschaft aufgedeckt hat, so schonungslos zeigt jetzt das Chaos um den Umgang mit hunderttausenden Flüchtenden, wo der europäische Integrationsprozess in der Realität tatsächlich steht.

Kein Wunder, das dieser Tage viel vom Ende Europas zu hören und zu lesen ist. Von den einen, weil sie fürchten, dass die Massenflucht aus islamischen Ländern zum Untergang der abendländischen Kultur führt. Von den anderen, weil sie im Bau neuer Mauern einen Verrat an Europas Gründungsidee erblicken.

Nicht auszuschließen, dass beide Seiten falsch liegen. Wir können erst dann mit Sicherheit wissen, wann - und ob überhaupt! - etwas begonnen hat, wenn es zu Ende ist. Erst im Rückblick wird sich der Zustand Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts fassen lassen. Die momentanen Instant-Kommentare sind zweifellos unvermeidlich, aber eben auch weitgehend erkenntnisfrei. Noch fehlt uns allen der Überblick.