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In der Türkei hat nur einer das Sagen

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Analysen

Ministerpräsident Davutoglu wurde Erdogan im Handstreich entmachtet. Das zeigt die wahren Machtverhältnisse.


Die türkischen Parlamentswahlen im vergangenen November gewann Ministerpräsident Ahmet Davutoglu triumphal, weil er den Bürgern und der Wirtschaft Stabilität versprach. Nur ein halbes Jahr hat es gedauert, und die Krise ist mit voller Wucht zurück. Der schwelende Führungsstreit im Land eskaliert. Ausgerechnet am Tag seines größten politischen Triumphes, der Empfehlung der EU-Kommission für visafreie Reisen für türkische Bürger, wurde Davutoglu vom Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Handstreich entmachtet. Das zeigt die wahren Machtverhältnisse im Land.

Obwohl ihm die Verfassung eigentlich strenge Fesseln anlegt, bestimmt Erdogan die politische Agenda. Seit seiner Wahl zum Präsidenten im August 2014 will er die Verfassung ändern, um ein autoritäres Präsidialsystem ohne demokratische "Checks and Balances" zu installieren und damit seine Herrschaft auf Dauer zu sichern. Premier Davutoglu sollte als Befehlsempfänger dieses Ziel im Parlament erreichen.

Doch er fand zunehmend Lust am Regieren und versuchte, sich eine Hausmacht in der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zu schaffen, misstrauisch beäugt vom Präsidenten. Die Kritik der Erdoganisten an Davutoglu wuchs, als er bei der Verfassungsreform versagte. Sie eskalierte, als klar wurde, dass die EU die Visaliberalisierung durchwinken würde - ein Trumpf bei den Wählern, den sich Davutoglu und nicht Erdogan auf seine Fahnen schreiben kann.

Jetzt zog der Präsident die Notbremse. Der angekündigte außerordentliche Parteikongress ist sein Mittel, um die Abweichler zu disziplinieren, denn wie stets wird es niemand dort wagen aufzubegehren. Alles Weitere haben AKP-nahe Medien schon vorgezeichnet: Einsetzung eines Pro-forma-Premiers, Neuwahlen im Herbst, Sieg der AKP mit verfassungsändernder Mehrheit, Präsidialsystem.

Es ist ein guter Zeitpunkt, denn die kleineren Parlamentsparteien sind geschwächt und könnten an der Zehnprozenthürde scheitern. Die Lektion für Europa heißt: In der Türkei hat nur einer das Sagen, egal mit wem man spricht. Meint es die EU ernst mit den demokratischen Standards als Vorbedingung für die Visafreiheit, kann sie nicht mehr davor drücken, mit dem Mann Klartext zu reden, der wirklich in Ankara herrscht: Recep Tayyip Erdogan.