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Stehaufmännchen, trotz allem

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Analysen
Brexit, so what: Cameron (M.) betont gut gelaunt bei seiner Abschiedsrede, May (r.) freut sich auch.
© reu

Brexit hin oder her: In einer Sache sind sich die Tories einig - sie sind die "natürliche" Regierungspartei.


London. Binnen drei Wochen ist alles wild durcheinander gepurzelt in London. Wie eine Naturgewalt hat der Brexit-Entscheid Whitehall und Westminster erfasst. Neue Gesichter sind aufgetaucht und alte Gewissheiten über Nacht verschwunden. Keiner der bisherigen Hauptakteure ist mehr an seinem Platz.

David Cameron, der jüngst noch in Unterhauswahlen triumphierte, ist am Mittwoch aus seinem Amtssitz gezwungen worden. Cameron hatte sich mit "seinem" Referendum katastrophal verkalkuliert. Von den Brexit-Wortführern aber hatte keiner einen Plan parat für die Post-Brexit-Ära. Boris Johnson und Nigel Farage, die Haupt-Brexiteers, haben sich, nachdem sie alles in Trümmer gelegt hatten, aus der Verantwortung gestohlen. Michael Gove und Andrea Leadsom, ihre Helfer, machten ihren jeweiligen Führungsanspruch in einem zur Farce geratenen Intrigenspiel eigenhändig kaputt.

Die Folgen der historischen Fehleinschätzung David Camerons aber sind, nach diesen turbulenten zwanzig Tagen, noch kaum abzusehen. Vielleicht am erstaunlichsten war diese Woche, wie wenig Cameron das zu berühren schien. Munter summend und mit ein paar letzten Späßchen auf den Lippen marschierte er von der Bühne. Am Ende war für ihn ebenso wie für seine Kontrahenten alles nur ein Spiel um Rivalität und persönliche Karrieren. Die Zukunft des Vereinigten Königreichs in Europa und die Zukunft der EU selbst bedeuteten weder "Dave" noch "Boris" sonderlich viel.

In die Geschichte eingehen wird Cameron nun wohl als der Premierminister, der Großbritannien aus der Europäischen Union zerrte und womöglich das ganze Königreich seinem Zerfall zuführte. Und der sein Land schon vorher mit harscher Austerität und sozialem Dünkel gespalten hatte - was beim EU-Wählerentscheid keine geringe Rolle spielte.

Bei all denen, die Cameron nach seiner Wahl zum Parteichef im Jahr 2005 als Modernisierer willkommen geheißen hatten, hinterlässt dieses abrupte Ende seiner Laufbahn einen bitteren Nachgeschmack. Ein paar wenige Reformen, wie die gleichgeschlechtliche Ehe, hat Cameron als Regierungschef zwar durchgesetzt. Er hat gegen den Willen der Parteirechten an der Entwicklungshilfe für die ärmsten Nationen festgehalten. Und er hat nach 2010 mit einem couragierten Brückenschlag zu den Liberaldemokraten sein Land an Koalitions-Verhältnisse gewöhnt.

Die gebrochenen Versprechen

Davon abgesehen aber haben sich seine sechs Jahre in Downing Street Nr. 10 als lange Reihe gebrochener Versprechen erwiesen. Statt den Leuten auf die Beine zu helfen, wie er es gelobt hatte, entzog er ihnen mehr und mehr die Hilfe der öffentlichen Hand. Er reduzierte drastisch den kommunalen und staatlichen Sektor und bürdete die größte Last den Schwächsten der Gesellschaft auf.

Die "grüne Regierung", die er einmal versprochen hatte, war schnell wieder vergessen. Neue Kriege, wie in Libyen, kamen in Gang. In Schottland und England rührte Cameron leichtfertig nationalistische Ressentiments auf. Und in Europa fand er keine Verbündeten, weil er keine suchte. Am Ende, als alles auseinanderfiel, stand er allein da.

Und das Ergebnis? Eine Tory-Politikerin, die eigentlich für den Verbleib in der EU war, soll nun Britannien aus der Union führen. Theresa May, die neue Premierministerin, soll jetzt das Kunststück vollbringen, ihrem Land einen assoziierten Status ohne Tarifschranken und Mehrkosten, aber mit voller Befugnis zur Einschränkung des Zuzugs von EU-Bürgern nach Britannien zu besorgen. Wie sie das machen will weiß nicht einmal sie selbst.

Dafür weiß sie sehr genau, was für die nächsten Jahre ihr innenpolitisches Ziel ist. Nämlich die Labour Party, die seit dem Referendum in komplettes Chaos gerutscht ist, auf sehr lange Zeit von der Macht fernzuhalten. Eine neue Ausrichtung konservativer Wirtschafts- und Sozialpolitik hat May aus diesem Grund bereits in Aussicht gestellt. Wie ernst das gemeint ist und ob die Brexit-Folgen es erlauben, muss sich erst zeigen.

Deutlich ist aber, dass sich ausgerechnet die Partei, die Britannien in diese gewaltige Krise stürzte, Hoffnung auf eine neue Ära politischer Dominanz machen darf. Keine drei Wochen sind seit dem Brexit-Beschluss vergangen - und schon nehmen die Tories, als wäre nie etwas gewesen, ihre angestammte Rolle als "die natürliche Regierungspartei" des Landes wieder wahr.