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"Wie im Mittelalter"

Von Arian Faal

Politik

Analyse: Einblick in die Welt der Scharia - 110 Menschen wurden in Saudi-Arabien heuer bereits geköpft.


Riad/Wien. "Wir haben eine gesunde Rechtssprechung und die Scharia beachtet die Menschenrechte sehr wohl", heißt es zumeist von Sprechern der Regierung Riads, wenn westliche Länder oder Menschenrechtsorganisationen die ständig steigenden Enthauptungszahlen im sunnitischen Land kritisieren. Angefügt wird dann noch der Hinweis, dass Einmischungen äußerst unerwünscht seien und nicht folgenlos bleiben würden.

Das wahhabitische Königreich Saudi-Arabien hat 2016, mehr als ein Jahr nach dem Tod des Königs Abdullah und der Nachfolge durch seinen Bruder Salman, bereits 110 Menschen hingerichtet. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fürchtet, dass die Zahl bis Ende 2016 sogar noch den Wert von 158 staatlichen Tötungen aus dem Vorjahr (siehe Grafik) übersteigen könnte. 2015 gab es die meisten Exekutionen seit 1995. Scharfrichter werden weiterhin auf Hochtouren gesucht. Auf manchen Internetseiten von Ministerien werden Stellenangebote als "professioneller Enthaupter" geschalten, königliches Gehalt und viele Sonderprämien inklusive.

Wie funktioniert die Rechtssprechung in Saudi-Arabien? Das Prinzip der Justiz basiert auf dem einer absolutistischen Monarchie, deren Grundlage die Scharia bildet. Gewaltlose politische Oppositionelle werden sehr oft ohne Anklage und ausreichendem Rechtsbeistand und Gerichtsverfahren wahllos inhaftiert. Bei Männern wird die Prügelstrafe sehr oft angewandt. Neben der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ist Saudi-Arabien das einzige Land der Welt, das noch Enthauptungen durchführt. Die Gefängnisse im Land sind zudem überfüllt, Folter und Misshandlungen keine Seltenheit.

Fall Badawi alsSpitze des Eisberges

Der regimekritische Blogger Raif Badawi, der all dies kritisiert hatte, sitzt seit über drei Jahren im Gefängnis und wurde zu einer Geldstrafe und zu 1000 Peitschenhieben verurteilt. Eine Tranche von 50 Hieben hat er im Jänner 2015 erhalten, der Rest wurde nach heftigen internationalen Protesten ausgesetzt.

Badawi ist aber nur ein Beispiel. Kritische Aktionen gegen das Königreich werden sehr streng geahndet. Die Polizei löst friedliche Demonstrationen brutal auf, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Außerdem steht das Internet unter staatlicher Kontrolle der Zensurbehörde. Kritik am Haus Saud kommt Terrorismus gleich. Badawi dient als Symbol für tausende andere Schicksale, die unbemerkt geblieben sind. Besonders Frauen, die im Königreich übrigens auch nicht Autofahren dürfen, sind wie Kinder und Ausländer rechtlich stark benachteiligt: Eine Frau unterliegt per Gesetz der Vormundschaft eines Mannes und darf ohne seine Erlaubnis nicht reisen, einen Pass besitzen oder gewisse medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen. Ausländer müssen ebenso aufpassen. Mehrmals schon wurden westliche Bürger festgenommen, weil sie etwa auf einer Parkbank eine Bibel gelesen hatten.

"Es ist wie im Mittelalter und es wird immer schlimmer. Wir nennen das eine willkürliche Rechtssprechung", klagt ein UNHCR-Vertreter im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Jede Enthauptung sei eingebettet in eine feierliche "Zeremonie". Nach dem Freitagsgebet werden Hinrichtungen "zelebriert", wie es die Scharfrichter nennen. Schon die Verfassung und die Gesetze in Saudi-Arabien verheißen klare Regeln. So sei es laut saudischen Religionsführern nicht Aufgabe der Regierung, "Konsens innerhalb der Bevölkerung herzustellen", sondern nach Auffassung der reinen Lehre "die Gebote und Verbote Gottes im gesellschaftlichen Leben zur Geltung zu bringen". Nachsatz: um jeden Preis.

Daher wird in Riad geköpft, ausgepeitscht und gekreuzigt: Was der Westen bei der ebenfalls sunnitischen Terrormiliz IS als barbarisch verurteilt, ist im Königreich fixer Bestandteil des Alltagslebens. Jeden Freitag unterrichtet der saudi-arabische Großmufti, in Sichtweite des Hinrichtungsortes, frisch bekehrten Muslimen "den wahren Islam". Wer den Geboten der Scharia nicht folgt, wird bestraft.

Draußen bereitet der Scharfrichter das Krummschwert vor. Die Angeklagten, die oft keinen ausreichenden Rechtsbeistand erhalten, werden an den Händen gefesselt. Über ihre Gesichter werden große graue Tücher gebunden. Der Hinrichtungsprozess dauert nur kurz. Die Krönung des "Spektakels" ist ein Ritual, der wichtige Ausspruch des Scharfrichters "bis der Kopf auf das Deckenlager fällt". Danach kommen die Arabischen Klingen (Krummsäbel) zum Einsatz. Der rollende Kopf fällt auf Decken, die sich rot einfärben. Hastig werden über die blechernen Lautsprecher Name und Taten des Hingerichteten heruntergeleiert, während der Scharfrichter bedächtig seine Klinge mit einem weißen Tuch abwischt. Nach der Zeremonie wird reichlich gegessen. Das Fußvolk wird mit Lamm oder Huhn mit reichhaltigen Saucen und Reis verköstigt. Die Todesstrafe ist bei Delikten wie etwa Mord, Vergewaltigung, Homosexualität, Drogenschmuggel, Drogenhandel, Rebellion oder "Hexerei" vorgesehen. Amnesty wirft den westlichen Regierungen vor, mit zweierlei Maß zu messen. Der Missbrauch staatlicher Macht in Saudi-Arabien werde nicht offen angesprochen - man schone das Land wegen seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung.

"Niemand will es sich wirtschaftlich mit den Saudis verscherzen, denn sie haben Öl und somit Macht", so der Vorwurf von Amnesty. Daher könne es schon einmal vorkommen, dass man die Augen vor den Gräueltaten dort bewusst verschließe.

Zwist mit dem ErzrivalenIran wegen Hadsch

Eine besondere Folgewirkung hatte übrigens die Enthauptung von 47 Menschen am 2. Jänner 2016 wegen "Terrorismus", darunter der schiitische Geistliche Nimr al-Nimr. Seine Exekution hatte zu einer diplomatischen Krise zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien geführt. In der Folge wurde die saudische Botschaft in Teheran von einem Mob gestürmt, Riad brach daraufhin die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab.

Auch wegen einem anderen Thema, der heiligen islamischen Pilgerfahrt (Hadsch), sind die beiden Länder im Clinch. Irans Oberster Geistlicher Führer, Ayatollah Ali Khamenei rief dazu auf, die Verwaltung der jährlichen Pilgerfahrt Hadsch nach Mekka durch Saudi-Arabien zu überdenken. Als Begründung führte er den Tod von tausenden Pilgern im vergangenen Jahr an.

Zugleich beschimpfte Khamenei die Führer Saudi-Arabiens als Ungläubige. "Die Muslime weltweit sollten die blasphemische und von den Weltmächten abhängige Natur der Saudis erkennen", sagte er in seiner jährlichen Botschaft vor dem Hadsch. Heuer nehmen nach den Spannungen erstmals keine Perser am Hadsch teil.

Der einflussreiche Kommandant der iranischen Revolutionsgarden, General Mohammed Ali Jafari, verglich Saudi-Arabien mit dem Erzfeind Israel. "Heute sind die Saudis in die Fußstapfen der israelischen Zionisten getreten", schrieb er auf Twitter. Außenamtssprecher Bahram Ghassemi forderte Saudi-Arabien auf, seine Paranoia gegenüber dem Iran abzulegen und wieder rational zu denken und zu handeln.