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Ausgekaisert

Von Walter Hämmerle

Analysen

Egal, ob ein ehemaliger Grüner oder ein bekennender Blauer gewinnt: Mit dieser Hofburg-Wahl endet eine Ära. Eine Analyse.


"It’s been a long time coming, but I know a change is gonna come."

Es hat lange gedauert, aber der Wandel wird schließlich kommen, sang der Soulsänger Sam Cook Mitte der 1960er Jahre, einer Zeit tiefer sozialer Umwälzungen in den USA. Der Vers passt auch ins heutige Österreich: Seit langem ist von der Erosion der alten Machtstrukturen die Rede, vom Niedergang der Großparteien, vom Aufstieg neuer Kräfte und dem Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung. Jetzt ist es so weit.

Egal, ob nun Alexander Van der Bellen oder Norbert Hofer: Mit der Wahl eines neuen Bundespräsidenten an diesem Sonntag geht eine Epoche zu Ende, die mit der Wahl des greisen Karl Renner am 20. Dezember 1945 zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik begonnen hatte.

Ein Amt als Kompromiss

Dass Renner von der Bundesversammlung gewählt wurde und nicht von den Bürgern, wie es die wieder in Kraft gesetzte Verfassungsnovelle von 1929 eigentlich vorgesehen hätte, gibt einen Hinweis auf die Ambivalenz dieses höchsten Staatsamtes. Dessen durchaus beachtliche Kompetenzen wurzeln in einem mühsam errungenen Kompromiss. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, dem Ende der Monarchie setzte das übrig gebliebene Deutsch-Österreich auf einen radikalen Neuanfang: Das durch Nationalitätenstreit und Notverordnungen des Kaisers an den Rand gedrängte Parlament rückte ins Herz des politischen Systems; sogar der Job des Staatsoberhaupts wurde vom Nationalratspräsidenten einfach nebenher miterledigt.

Was seit der Sedisvakanz in der Hofburg ein Provisorium darstellt, war zu Beginn der Republik ein bewusstes Statement, auf dem vor allem die Sozialdemokraten beharrten. Erst mit der Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 erblickte auf Drängen der Christlichsozialen das Amt des Bundespräsidenten das Licht der Welt. Viel mitzureden hatte das Staatsoberhaupt dennoch nicht und gewählt wurde es von der Bundesversammlung.

Die Ideen der Parlamentarismus, ja der Demokratie überhaupt, gerieten in den folgenden Jahren zunehmend in die Defensive, quer durch Europa und eben auch in Österreich. Autoritäre Vorstellungen für einen Umstieg auf ein Präsidialsystem samt starkem Mann als Machtzentrum scheiterten; noch, muss man mit Blick auf die Ereignisse der 1930er Jahre hinzufügen. Stattdessen einigten sich die regierenden Christlichsozialen und die oppositionellen Sozialdemokraten auf die Verfassungsreform von 1929, die eine deutliche Aufwertung des Bundespräsidenten samt Volkswahl brachte, das Amt in wesentlichen Fragen aber doch an Parlament und Regierung band. Seitdem ist es Sache des Bundespräsidenten, den Bundeskanzler und - auf dessen Vorschlag - die Minister zu ernennen; sogar die Möglichkeit, den Nationalrat aufzulösen, steht ihm nun als letztes Mittel zur Verfügung.

Am Praxistest gescheitert

Doch von dieser Machtfülle hat bis heute kein Präsident Gebrauch gemacht - obwohl es im Zuge der Verfassungskrise 1933, die zur Ausschaltung des Parlaments und der Einführung des autoritären Ständestaats führte, Bedarf nach einem starken Bundespräsidenten gegeben hätte.

Trotz dieser nicht bestandenen Bewährungsprobe wurde 1945 am Amt des starken Bundespräsidenten formal nicht gerüttelt. Statt dessen Kompetenzen zurückzuschneiden, entschlossen sich die Parteien, dem Amt realpolitisch die Zähne zu ziehen, indem sie in den folgenden Jahrzehnten keinen Zweifel daran ließen, wo in der Republik die politische Macht tatsächlich zuhause war: nämlich in den Zentralen von SPÖ und ÖVP sowie in ihren diversen Vorfeldorganisationen. Das Amt des Bundespräsidenten war fortan und je nach Standpunkt entweder ein "schlafender Riese", der nur geweckt werden wollte, oder ein braver "Staatsnotar", der mit seiner Unterschrift bloß unterfertigte, was zuvor beschlossen worden war. Wer wirklich nach der Macht strebt, will in diesem Land bis heute Bundeskanzler werden oder zumindest Landeshauptmann, aber nicht Bundespräsident. Das zeigte sich auch dieses Mal.

Hierin liegt der Grund, weshalb auch im 72. Lebensjahr der Zweiten Republik noch immer völlig unklar ist, wie viel Macht tatsächlich im Amt des Bundespräsidenten steckt. Thomas Klestil verdanken wir immerhin den Beweis, dass die völlige Freiheit des Bundespräsidenten bei der Ernennung des Bundeskanzlers nach mehr klingt, als sie in der Praxis hergibt - zumindest dann, wenn dem eine zum Regieren entschlossene Mehrheit im Nationalrat entgegensteht.

Trotzdem: Im Wesentlichen bleibt die Machtfülle des Staatsoberhaupts bis heute im politischen Alltag ungetestet - wir wissen schlicht nicht, wie mächtig unser Bundespräsident ist, wenn er es denn tatsächlich einmal sein wollen sollte. Was etwa, wenn der Bundespräsident tatsächlich seine Unterschrift unter einen von Regierung und Parlament beschlossenen internationalen Vertrag verweigern würde? Sowohl Van der Bellen als auch Hofer haben im Wahlkampf in Bezug auf Ceta, das Handelsabkommen EU-Kanada, heftig damit geliebäugelt. Der Bundespräsident hätte das Recht dazu, aber in letzter Konsequenz läge hierin wohl der Keim für eine ernsthafte Staatskrise.

Und nur vor diesem Hintergrund war es möglich, dass beide Kandidaten sich im zurückliegenden Wahlkampf einen Anschein von politischer Allzuständigkeit verleihen konnten und manche Kommentatoren vor einem neuen Autoritarismus warnen zu müssen glaubten.

Wie viel von dieser Debatte der politischen Fantasie zuzuordnen sein wird und wie viel konkrete Gestalt annimmt, muss vorerst offen bleiben. Die Grundvoraussetzung für eine politische Emanzipation des höchsten Amts im Staat ist jedenfalls gegeben: Weder der ehemalige Grünen-Chef Van der Bellen noch der bekennende Freiheitliche Hofer wurde in den Reihen der ehemals alles dominierenden Großparteien SPÖ und ÖVP politisch sozialisiert. Der Bundespräsident ist damit nicht länger Fleisch vom Fleisch des in Österreich allgegenwärtigen großkoalitionären Machtabgleichs.

Dass das Amt damit automatisch zum Fremdkörper in einer nach wie vor - und jedenfalls bis zu den nächsten Nationalratswahlen - rot-schwarzen Republik wird, ist damit nicht gesagt. Wenn nun der Handlungsspielraum des Bundespräsidenten neu vermessen wird, dann trifft dabei das Selbstverständnis des neuen Bundespräsidenten auf jenes der Regierung, wobei die Klarheit der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sowie die öffentliche Meinung und allgemeine Stimmungslage wesentlichen Einfluss auf das Ergebnis haben werden.

Was kann das Amt?

Dabei ist gar nicht sicher, dass eine Mehrheit der Bürger einen politisch aktiveren Bundespräsidenten überhaupt begrüßen würde. In der österreichischen Innenpolitik der letzten Jahrzehnte gab es eher keinen Mangel an Konkurrenz und Konflikt, sondern wenn, dann eher ein Defizit beim gesamtstaatlichen "Wir-Gefühl".

Mit jedem Engagement in der Tagespolitik setzt sich der Bundespräsident deren Konfliktlogik aus, daran ändert auch ein Hinweis auf sein direktdemokratisches Mandat nichts. Die ebenfalls, nur eben indirekt, gewählte Regierung ist zum Regieren da. Der Bundespräsident war bisher Staatsnotar, Vermittler und Verbinder im Hintergrund, Türöffner für die Wirtschaft im Ausland, Festredner bei Festspielen, bei Bedarf auch öffentlicher Mahner und immer gerne republikanischer Ersatzkaiser. Ob es daneben oder darüber hinaus noch mehr für ihn zu tun gibt, werden die nächsten sechs Jahre zeigen.