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Der starke Mann unter Druck

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Analysen

Eine Niederlage beim Verfassungsreferendum wäre fatal für Erdogan. Deshalb sucht er den Radau.


Istanbul. "Stehen wir vor einem Krieg mit Deutschland?" Diese nur halb scherzhaft gemeinte Frage stellen sich Türken in diesen Tagen. Besorgt reagieren sie auf die scharfen Töne ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Streit mit Deutschland - und sie sind einiges von ihm gewohnt. Obwohl ihn die Verfassung zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet, zögert er nicht, Oppositionspolitiker als Terroristen, Spione oder Verräter zu beschimpfen. Manchmal ist die Erregung seinem cholerischen Temperament geschuldet, in der Regel aber ist sie genau kalkuliert und zielt auf die türkischen Wähler. Deshalb kann man sein Poltern auch als Zeichen dafür lesen, unter welch gewaltigem Druck er steht.

Spätestens seit er 2014 direkt vom Volk zum Staatspräsidenten gewählt wurde, verfolgt Erdogan eine stringente Agenda. Er möchte ein exekutives Präsidialsystem einführen, das ihm quasi-diktatorische Vollmachten verleiht. Im Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs im vergangenen Juli verhängt wurde, herrscht der Präsident zwar de facto schon wie ein Autokrat, aber das reicht ihm nicht. Er möchte seine Herrschaft auch rechtlich legitimieren, und dafür braucht er eine Verfassungsänderung, über die das Volk in fünf Wochen in einem Referendum abstimmen wird.

Gewinnt das "Ja", erlebt die Türkei den fundamentalsten Wandel des politischen Systems seit Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1923. Doch trotz des Ausnahmezustands und obwohl seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP die Medien zu mehr als 90 Prozent lenkt, zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab, und viele Wähler sind noch unentschieden. "Sie geben bei Umfragen an, mit Ja zu stimmen, obwohl sie eigentlich für Nein sind, weil sie Angst haben, sich öffentlich zu einem Nein zu bekennen", klagte der regierungsnahe Kolumnist Akif Beki in der "Hürriyet".

Eine Niederlage wäre fatal für Erdogan, denn der starke Mann würde plötzlich als schwach wahrgenommen. Neuwahlen wären unvermeidlich. Beobachter sprechen von großer Verunsicherung auch in der AKP. Die Partei schaffe es bisher nicht, das "Ja" für Erdogans Allmachtansprüche plausibel zu bewerben.

Eingeübte Kampfrhetorik

In dieser Lage könnten die Auslandstürken zum Zünglein an der Waage werden. Sie sind von den innertürkischen Problemen und Konflikten weitgehend unberührt. Das ist der Grund, warum die AKP plötzlich reihenweise Minister nach Deutschland schickt, um die 1,4 Millionen Wahlberechtigten dort zu mobilisieren. Unter ihnen gibt es, wie auch unter den Türken in Österreich, viele AKP-Sympathisanten.

Erdogan setzt zudem bereits seit Jahren auf eine Polarisierungsstrategie, die seinen Wählern im Zweifelsfall keinen Entscheidungsspielraum lässt, weil er sie vor die Alternative "Ich oder das Chaos" stellt. Dafür braucht er möglichst viel Radau und vor allem: Widerstand. Jede Wahlkampfabsage aus Deutschland spielt ihm in die Hände. Sie gibt ihm Gelegenheit, die angebliche Demütigung "der Türkei" mit eingeübter Kampfrhetorik zu verknüpfen, um Deutschland als Terrorfreund, sich und die Türkei als Opfer darzustellen. Deshalb die Rede von "Nazi-Methoden" und der Drohung, "die ganze Welt aufzuwirbeln", falls Deutschland ihm einen Auftritt untersage. Damit bestärkt er die Deutschtürken ganz bewusst in ihrer Selbstwahrnehmung als unterdrückte muslimische Minderheit. Sie an die Wahlurnen zu bringen, könnte die Abstimmung entscheidend drehen. Darum warnen Erdogan-Kritiker aus der Türkei vor Auftrittsverboten.

Daheim wiederum mobilisiert Erdogan mit seinen Provokationen die Nationalisten. Selbst Oppositionspolitiker stimmen in das Klagelied ein von der Türkei, die angefeindet wird, weil die Deutschen ihr den wirtschaftlichen Aufstieg nicht gönnen. Anders als manche Türken im Ausland wissen die Menschen in der Türkei aber genau, dass die Dinge nicht gut stehen. Die Wirtschaft ist in der Krise, der Tourismus liegt am Boden, die Inflation rast. Selbst wenn sie Erdogan verehren, bietet das Referendum den Unzufriedenen eine Chance, ihrem Unmut Luft zu machen, ohne ihn abwählen zu müssen . Das ist die eigentliche Gefahr für Erdogan.

Riskante Strategie

Doch auch die Eskalationsstrategie ist nicht ohne Risiken für den "Boss", wie ihn seine Anhänger nennen. Die Türkei ist wirtschaftlich viel zu abhängig von ihren wichtigsten Geschäftspartnern Deutschland und EU, als dass Erdogan die Beziehungen ernsthaft gefährden könnte, ohne dass das Land daran Schaden nimmt.

Zudem könnte sich auch der künstliche Furor über die Auftrittsverbote rächen - schließlich geht die AKP selbst nicht eben sanft mit jenen um, die in der Türkei Wahlversammlungen für das "Nein" abhalten wollen. Schon prangern Oppositionspolitiker die Heuchelei jener an, die sich über Auftrittsverbote und fehlende Meinungsfreiheit beschweren, die sie zu Hause längst beseitigt haben.