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Eskalation statt Dialog

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Analysen

Venezuela ist auf dem Weg in die Diktatur. Wie es so weit kommen konnte. Eine Analyse


Rio de Janeiro. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Beilegung von Konflikten nicht zwingend einen Konsens braucht, wohl aber einen Dialog. In diesem Sinne ist es unwahrscheinlich, dass die politische Konfrontation, die Venezuela erschüttert, bald zu einem Ende kommen wird.

Die Regierung von Präsident Nícolas Maduro hat deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an Gesprächen mit der Opposition hat. Es scheint ihr im Gegenteil um eine Eskalation zu gehen. Wie alle autoritären Regime braucht sie Feindbilder, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Praktische Errungenschaften hat sie keine mehr vorzuweisen. Auch deshalb sieht es nun immer mehr aus, als ob Maduro, der 2013 mit hauchdünner Mehrheit gewählt wurde, nach einem Vorwand sucht, um sich die Macht langfristig zu sichern - sprich eine Diktatur zu errichten.

In diese Richtung deutete bereits die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung am vergangenen Sonntag. Da klar war, dass die Abstimmung nur dazu dienen sollte, das Parlament zu entmachten, in dem die Opposition seit 2015 die Mehrheit hat, wurde sie von großen Teilen der Bevölkerung boykottiert. Dennoch hätten laut Regierung acht Millionen der 19 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben - für die Opposition eine lächerliche Zahl.

Wirtschaft nurauf Öl ausgerichtet

Drei Tage nach dem Votum dann das: Das Unternehmen, das die Wahlmaschinen bereitstellte, gab bekannt, dass mindestens eine Million Stimmen illegal hinzugefügt worden seien. Aber Maduro, dessen Sohn und Ehefrau in die Verfassungsversammlung gewählt worden waren, zeigte sich unbeeindruckt. Er beschuldigte die Firma, von den "Gringos" unter Druck gesetzt worden zu sein.

Mit der gleichen wegwischenden Art tut Maduro auch die US-Sanktionen gegen Regierungsfunktionäre und die zunehmende Kritik aus Europa ab. Die diktatorischen Tendenzen seines Regimes treten unter Stress deutlich zutage. So wurden kurz nach der Wahl zwei prominente Oppositionspolitiker verhaftet. Und es wurden Listen mit Angestellten aus Staatsbetrieben zusammengestellt, die sich nicht am Verfassungsvotum beteiligt hatten.

Wegen seines radikalen Kurses ("Was wir nicht per Wahl erreichen, schaffen wir mit Waffen") ist Maduro nun auch in Lateinamerika isoliert. Lediglich Kuba, El Salvador, Nicaragua, Ecuador und Bolivien halten zu ihm - zumindest vordergründig. Doch lästert Boliviens Präsident Evo Morales über Maduro, sobald die Mikros abgeschaltet sind. Unter ihm hat sich Bolivien zu einem linken Vorzeigeprojekt entwickelt. Das Land verzeichnet die höchsten Wachstumsraten der Region - ohne dabei den sozialen Ausgleich zu vergessen.

Von solch einer Entwicklung ist Venezuela weit entfernt. War Hugo Chávez 1999 angetreten, das Ölland gerechter zu machen, so endet der Chavismus nach unleugbaren Erfolgen (Armut und Analphabetismus sanken deutlich) in einem Fiasko.

Das hat mehrere Gründe: Erstens kümmerte sich die Regierung vor allem darum, die Petrodollars auszugeben, die hereinsprudelten, solange der Ölpreis hoch war. Seit 2013 hat er sich aber halbiert. Zweitens verschuldete sich Venezuela international enorm. Die Wirtschaft wurde auf Öl ausgerichtet, sodass Venezuela sonst nichts Nennenswertes mehr produziert. Gebrauchsgüter müssen importiert werden, von der Aspirin bis zur Zahnbürste. Zudem versäumte man es, in die Ölförderanlagen zu investieren. Ignoriert wurde auch die ausufernde Korruption.

Inflation liegt heuerbei 720 Prozent

All das hat zu surrealen Zuständen geführt. Seit 2013 ist die Wirtschaft Venezuelas um 35 Prozent geschrumpft, wie Harvard-Ökonom Ricardo Hausmann errechnet hat. Da die Regierung keine Statistiken mehr veröffentlicht, ist man auf Daten von außerhalb angewiesen.

Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent liegt, die Inflation taxiert er für 2017 auf 720 Prozent. Darunter leiden vor allem die Armen. Und: Caracas gilt als gefährlichste Stadt der Welt. Die Mordrate liegt bei 120 Morden pro 100.000 Einwohner (Deutschland: 0,8.).

Das sind die Umstände, in denen im März die Massenproteste gegen Maduro ausbrachen. Unmittelbarer Auslöser war die Suspendierung des Parlaments durch den Obersten Gerichtshof. Seither erschüttern wöchentliche Demonstrationen das Land, mehr als hundert Menschen wurden getötet. Die Polizei und paramilitärische Einheiten gehen extrem brutal vor. Gruppen militanter Demonstranten antworten mit gleicher Münze.

Auch die Oppositionist kein Hoffnungsträger

Es gehört zur venezolanischen Tragödie, dass auch die Opposition, die sich in dem Bündnis MUD zusammengeschlossen hat, kein Hoffnungsträger ist. Ihre Führer gehören der alten Elite an, die das Land bis 1999 ausgeplündert hatte. Andere waren am Putschversuch gegen Hugo Chávez 2002 beteiligt gewesen oder hatten 1989 geschwiegen, als die Armee hunderte Menschen tötete, die gegen neoliberale Reformen protestierten. Die Schwäche der Opposition wird durch ihre Zerstrittenheit noch verstärkt. Einig ist sie sich nur in ihrer Forderung nach Neuwahlen.

Doch das wird es mit Maduro nicht geben. Weil das Militär ihm bisher den Rücken stärkt, ist abzusehen, dass sich die Situation in Venezuela eher noch radikalisieren wird. Ebenso wird die Zahl der Menschen, die Zuflucht in den Nachbarländern Brasilien und insbesondere Kolumbien suchen, weiter steigen.