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Die Stadt als Wiege der Zivilisation

Von Thomas Seifert

Von Babylon über Rom, Athen, New York und Shanghai (v.l.n.r.) zur Post-City, in der nicht mehr Gott, der Kaiser und/oder Mammon im Mittelpunkt stehen, sondern der Bewohner der Stadt.
© Roland Vorlaufer

Als der Mensch begann, in Städten zu siedeln, legte er den Grundstein für rasanten Fortschritt: Nirgendwo sonst übertrugen sich neue Ideen schneller von einem Menschen zum nächsten.


Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Urbanisierung. Seit der Gründung von Jericho im Jahr 9000 vor Christus haben sich Menschen in Siedlungen niedergelassen, die im Laufe der Zeit zu Städten heranwuchsen. Die Geschichtsschreibung ist eine Geschichtsschreibung der Städte, denn von der Stadt bleiben zumindest Ruinen: Indus-Zivilisation. Das alte Ägypten. Mesopotamien. Das antike Griechenland. Rom. Städte sind von Beginn an Transaktionsorte, in denen die Menschen Handel treiben und ihre Geldgeschäfte tätigen, dort finden sie seit jeher spirituelle Erfüllung, Ablass, Erbauung und Zerstreuung, in den Städten werden Tempel, Paläste, Kathedralen, Bibliotheken und Universitäten gebaut. In Städten werden Kaiser von Päpsten gekrönt oder von Revolutionären enthauptet. "In den Städten konzentriert sich Wissen, Reichtum und Macht. Hier bieten sich Lebenschancen für die Ehrgeizigen, Neugierigen und Verzweifelten und im Vergleich zu ländlichen Gemeinschaften sind Städte immer Schmelztiegel", schreibt der deutsche Historiker Jürgen Osterhammel  in seiner monumentalen Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts "Die Verwandlung der Welt". Und weiter: "Imperien werden von Städten aus regiert, globale Systeme von Städten aus gesteuert: die internationale Finanzwelt von London, die katholische Kirche von Rom, die Modebranche von Mailand oder Paris aus."

Städte boten schon immer Chancen auf ungeahnten Erfolg – aber bargen auch immer das Risiko kläglichen Scheiterns. Die märchenhafte Lagunenstadt Venedig war so ein Risiko-Ort.

Risikostadt Venedig

"Abfahrt. Risiko. Profit. Ruhm. Das waren die Kompass-Punkte des venezianischen Lebens", schreibt der britische Historiker Roger Crowley in seinem Buch "City of Fortune – How Venice Ruled the Seas". "Die Venezianer waren Händler bis in die Fingerspitzen; sie kalkulierten das Risiko, den Erlös und den Gewinn mit wissenschaftlicher Präzision. Das rote und goldene Löwenbanner flatterte auf den Masten der Schiffe wie ein Konzernlogo", schreibt Crowley. Venedig ist zudem ein Musterbeispiel für Aufstieg und Fall einer Metropole. Das Venedig des Jahres 1050 schwoll scheinbar unaufhaltsam von 45.000 auf 70.000 Einwohner im Jahr 1200 und 110.000 im Jahr 1330 an, als Venedig so groß wie Paris und vermutlich dreimal so groß wie London war. Aus dem Osten wurden Gewürze, Produkte aus Byzanz und Sklaven angeliefert, die Venedig weiterverkaufte – das Päpstliche Patent, das den Handel mit Muslimen erlaubte, leistete einen unschätzbaren Beitrag zu den Erwerbsmöglichkeiten der venezianischen Händler. Besonders clever war das Finanzierungsmodell, die Commenda. Die Commenda war eine Kapitalgesellschaft, die für jeweils eine Handels-Expedition gegründet wurde. Ein Partner trug das Geld bei, der andere nahm das Risiko und die Mühen der Reise auf sich. So wurde Venedig zur Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten und des sozialen Aufstiegs. Diese Gesellschaft der Chancen und Risiken gab sich nach und nach politische Institutionen, die Eliten wählten sich ihre Führer  selbst – der erste vom Dogenkonzil gewählte Doge Domenico Flabianico war ein reicher Seidenhändler aus einer Familie, in der vorher noch niemand ein hohes Amt bekleidet hatte.

Doch ab dem Jahr 1286 begannen die Eliten, so beschreiben es der amerikanisch-türkische Ökonom armenischer Abstammung Doron Acemoglu und Harvard-Professor James R. Robinson in ihrem Buch "Warum Nationen scheitern – Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut", ihre Pfründe abzusichern und die Leitern, die sie selbst zum gesellschaftlichen Aufstieg erklommen hatten, hinter sich hochzuziehen. Das Goldene Buch – Libro d’Oro –  enthielt ab 1315 die Namen jener Aristokraten, die fortan die Geschicke des Stadtstaates bestimmen sollten. Die Commenda hatte den Händlern den Aufstieg beschert, die 1286 beschlossene Serrata (Aussperrung) verschloss diesen Pfad. Ab 1324 ging es mit dem Wohlstand der Lagunenstadt bergab, aus der mächtigen Metropole wurde langsam aber sicher ein Museum.

Amsterdam: Hostie, Heringe

Spanier, Portugiesen und Holländer freuten sich, dass die italienische Konkurrenz im Niedergang war. Vor allem Amsterdam blühte auf: Die Stadt, 1345 zu einer Pilgerstadt aufgestiegen, verstand sich aber auch vortrefflich auf den Hering-Fang und verbesserte die Methoden des Hering-Ausnehmens und der Haltbarmachung des schmackhaften Fisches. Eines gab das andere: Die immer größer werdende Heringsflotte brauchte immer mehr Schiffe. Mehr Schiffe bedeuteten mehr Werften, ein höherer Bedarf an Segeltuch brachte Textilfabrikanten in die Stadt. Die Heringsflotte brauchte Geleitschutz und erfahrene Seeleute. In den sechziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts zählte die Provinz Holland rund 1800 seetüchtige Schiffe (rund 500 gehörten Amsterdam) – das Sechsfache dessen, was Venedig ein Jahrhundert zuvor auf dem Gipfelpunkt seiner Entwicklung hatte aufbieten können. Die Niederländer trieben einen regen Import-Export-Handel mit den wichtigsten Erzeugnissen der Nord- und Ostsee, mit Fisch, Getreide, Holz, Talg, Teer, Tierhäuten und Wollstoffen.

Die Rolle von Städten

Die Hafenstadt verknüpfte das europäische Hinterland mit dem Atlantik und den noch weiter entfernt gelegenen Gebieten. Schiffe aus der Neuen Welt liefen zwar zuerst Lissabon oder Sevilla an, sie gingen dann aber im Hafen von Amsterdam vor Anker. Dort wurden die importierten Güter weiterverarbeitet und veredelt, um dann wieder exportiert zu werden. Ein modernes und liquides Bankwesen half dabei.

Spanien wollte sich die ungeliebte Konkurrenz vom Hals schaffen, scheiterte aber und schloss 1609 Frieden mit Holland. Die Niederländer waren inzwischen darangegangen, ihre Handelsnetze immer enger zu knüpfen. Sie gründeten im Jahr 1602 die Vereenigde Oost-indische Compagnie, die Ostindien-Kompagnie, die auf den Gewürzinseln der Bandasee des heutigen Indonesien sowie auf Java Fuß fasste. "Kein Unternehmen in der Geschichte hatte derartigen Einfluss auf die Welt", schreibt Russell Shorto in seinem Buch "Amsterdam – A History of the World’s most Liberal City". Das Unternehmen sei ein Pionier der Globalisierung gewesen und habe die erste moderne Bürokratie erfunden und das Antlitz der globalen Landwirtschaft verändert, indem Kaffeebäume vom arabischen Mokka nach Java verschifft und unzählige Pflanzen-, Tier- und Insektenarten in den Schiffsbäuchen der Kompagnie von einem entlegenen Ort zum anderen gebracht wurden. In der Geschichte des Unternehmens wurden mehr als eine Million Europäer nach Asien transportiert und 2,5 Millionen Tonnen Produkte aus Asien nach Europa verfrachtet. Krieg, Gewalt, Verbrechen und Korruption waren da eine offenbar völlig normale Begleiterscheinung: Kein Wunder, dass nach der Auflösung der Vereenigde Oost-indische Compagnie ihr Kürzel VOC mit Vergaan onder Corruptie (Untergegangen in Korruption) wiedergegeben wurde. Amsterdam war zu einer imperialen Stadt geworden, stellte die imperiale Größe allerdings nicht aufdringlich zur Schau.

Hauptstadt des Empire

Ganz im Gegensatz zu Paris, das über eine imperiale Stadtlandschaft verfügte, zeigte sich London bescheidener: Die neue Regent Street war bei weitem nicht so eindrucksvoll wie der von 1806 bis 1836 in Paris erbaute Arc de Triomphe. Aber so wie die Bedeutung des British Empire gewachsen war, stieg auch London zur wichtigsten Metropole der Welt auf und ließ Paris hinter sich. Von London wurden die Waren und Kapitalströme organisiert, von der Hauptstadt des Empire aus wurde das größte Weltreich, das die Erde je gesehen hatte, verwaltet. "London hatte es nicht nötig, symbolisch dick aufzutragen", urteilt der Historiker Osterhammel. Von 1778 an hatte die britische East India Company die niederländische Konkurrenz aus dem Feld geschlagen und den Grundstein für Britannias Dominanz über Indien gelegt. Von nun an sollte Großbritannien den Handel mit Asien dominieren.

Doch die Entwicklung zog weiter westwärts. London verlor spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkrieges seine Vormachtstellung als bedeutendste Metropole der Welt an New York. Detroit wurde zum Standort der wichtigsten Schlüsselindustrie des 20. Jahrhunderts, der Automobilindustrie, San Francisco und das Silicon Valley wurden zum wichtigsten Standort der Schlüsselindustrie des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts: der Informationstechnologie. Heute wenden sich die Blicke der Beobachter erwartungsvoll Shanghai zu, dem wirtschaftlichen Zentrum des aufstrebenden China.

Städte: Abgrund der Seele?

Reinen Geistern waren Städte auch immer ein wenig suspekt: Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schreibt in "Émile oder Über die Erziehung": "Städte sind der Abgrund des Menschengeschlechts". Mohandas Karamchand Gandhi sagte einmal, das wahre Indien findet man nicht in seinen paar Städten, sondern in seinen 700.000 Dörfern. Das Wachstum der Nation sei nicht vom Wohl und Wehe der Entwicklung in den Städten, sondern von "Bharat India", dem Indien der Dörfer abhängig, meinte Mahatma Gandhi. Die "große Seele", der Mahatma, hätte sich aber wohl nicht gedacht, dass Indiens Wachstum einige Jahrzehnte später vor allem auf der Wirtschaftskraft der Städte fußen würde und auf der Findigkeit der Ingenieure in Bangalore, dem Fleiß der Fabrikarbeiter in Chennai oder der Risikobereitschaft der Investoren in Bombay. "Es gibt eine fast perfekte Korrelation zwischen Urbanisierung und Wohlstand – über die Nationengrenzen hinweg. Wenn der Urbanisierungsgrad eines Landes um zehn Prozent steigt, steigt die Pro-Kopf-Produktivität um 30 Prozent. Die Pro-Kopf-Einkommen sind in jenen Ländern, in der die Mehrheit der Bevölkerung in Städten lebt, viermal so hoch verglichen mit Ländern, in denen die Mehrzahl der Menschen auf dem Land lebt", schreibt Edward Glaeser in seinem 2011 erschienenen Buch "Triumph of the City".

Haben der kluge Gelehrte der Aufklärung, Rousseau, und die "große Seele", der Mahatma, die Essenz der Stadt nicht erkannt? Denn die Armut in den Städten, welche die beiden großen Denker abgestoßen haben muss, ist keine inhärente Eigenschaft der Stadt, Städte ziehen Menschen, die der Armut entfliehen wollen, an – sie gehen in die Städte in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Stadtluft macht frei – doch es war und ist eine Freiheit mit Schattenseiten. Die Zustände in der britischen Industriestadt Manchester schockierten nicht nur Friedrich Engels. Zwischen 1800 und 1850 verdreifachte sich die Bevölkerung dieser britischen Stadt von 71.000 auf 230.000. Birmingham wuchs im gleichen Zeitraum von 81.000 auf 404.000 und die Hafenstadt Liverpool von 76.000 auf 422.000. Die Lebensbedingungen in diesen neuen Industriestädten waren fürchterlich, der einzige Existenzgrund für diese Städte waren die Fabriken. Ähnliches ließe sich heute über so manche chinesische Industriestadt sagen.

Offenes Labor Stadt

Städte bieten dem Menschen die Chance, vielen Artgenossen zuzusehen und zuzuhören und voneinander zu lernen – eine herausragende Eigenschaft des Homo sapiens sapiens. Denn die Zusammenballung von vielen Menschen an einem Ort ermöglicht den freien Ideenfluss von einem Bürger zum nächsten und setzt damit eine Lawine von Ideen und Kreativität frei: Brunelleschi hat in Florenz das Geheimnis der perspektivischen Bilddarstellung entschlüsselt und damit die Malkunst und Bildhauerei revolutioniert. In der Musik sollte es später nicht anders sein: Im Wien des 18. Jahrhunderts inspirierten die Ideen eines gewissen Joseph Haydn (1732-1809) einen gewissen Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) – Haydn und Mozart sollten enge Freunde werden – und einen gewissen Ludwig van Beethoven (1770-1821), der Haydns Schüler werden sollte. In den 1970er Jahren erfand DJ Kool Herc das moderne DJing, Grandmaster Flash, der ihm bei House-Parties in der West Bronx zugehört hatte, verfeinerte DJ Kool Hercs Ideen. MC Melle Mel begann zu den Tunes zu singen und mit dem Rap und dem Mix von zwei Plattenspielern war eine neue Musikgattung geboren. Der Reichtum der Stadt – das sind die Menschen, die in ihr leben.

Jene, die erwartet haben, dass Internet, Bildtelefonie und die Kommunikationsrevolution, die das Arbeiten theoretisch von jedem Ort der Erde ermöglichen, die Städte entvölkern werden, haben sich geirrt.

Freilich, die neu entstandene kreative Klasse arbeitet heute gerne von einer Finca in Ibiza oder einem Haus in einem wildromantischen Teil Irlands oder Portugals aus. Gleichzeitig ist der Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten, das Networking mit Business-Partnern oder das Einsaugen von Inspiration noch wichtiger geworden – und das geschieht vorwiegend in den Städten. Denn die wichtigste Kommunikation erfolgt noch immer face-to-face. Kein Wunder, dass die Grundstückspreisentwicklung in den Städten der kreativen Klasse nur eine Richtung kennt: nach oben.

Orte der Innovation

Die Funktion der Stadt als Drehscheibe von Ideen, Gütern und Kapital ist seit Jahrtausenden die gleiche geblieben, gleichzeitig haben sich die Funktionen ausdifferenziert. Von den ersten großen, bedeutenden Städten wurden große Reiche regiert und mächtige Götter angebetet. Doch nach und nach gesellten sich neue Stadtfunktionen hinzu.

Der technologische Fortschritt war rasant, Straßen wurden gepflastert, Hafenbecken gemauert, zuerst verlängerten Gaslampen und später elektrisch betriebene Glühbirnen den Tag, Pferdekutschen auf Schienen wurden von elektrischen Tramwagen abgelöst (1888 in den USA, 1891 in Prag, 1897 in Wien und 1901 in London). Gleichzeitig entstanden neue Bahnhofsviertel. Die Stadt entwickelte sich auch immer mehr in die Tiefe: Ausgeklügelte Abwassersysteme verbesserten die Hygienebedingungen, 1860 wurde mit der "Metropolitan Line" in London das erste U-Bahn-Bauvorhaben in Angriff genommen, wobei anfangs noch Dampfloks die Züge durch die Rohre zogen. Budapest begann 1896 mit dem U-Bahn-Bau, Paris im Jahr 1900, New York im Jahr 1904. Ab der Jahrhundertwende folgte dann der Siegeszug des Automobils. Dieses Gefährt sollte das Antlitz der Städte völlig verändern und mit der Möglichkeit, die Stadt schnell hinter sich zu lassen und im Grünen zu siedeln, begann vor allem in den USA eine Periode des Niedergangs der Städte zugunsten von "Suburbia". In Deutschland kam 1913 auf 1567 Einwohner ein Pkw, in Frankreich auf 437, in den USA bereits auf 81.

Bis in die 1950er, 1960er Jahre wurden Städte aber immer noch attraktiver, die Bodenpreise stiegen mit rasender Geschwindigkeit, die Gebäude bekamen immer mehr Etagen. Aber erst mit der Erfindung des Fahrstuhls war es möglich, Hochhäuser so weit in den Himmel zu bauen, dass sie das Substantiv "Wolkenkratzer" verdienten.

Auch die Ausdifferenzierung der Stadtfunktionen nahm im 19. Jahrhundert eine neue Dimension an: Die Eisenbahn schuf den Stadttypus des Eisenbahnknotenpunkts, die modernen Bürger der Städte dürsteten nach Erholung und so fuhren die Londoner bald ins Seebad Brighton. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich ein internationales Netzwerk, das die Metropolen der Welt mit Telegraphenleitungen und Dampfschiffen miteinander verknüpfte. Lange genug haben die Sakralbauten der Kleriker und die Paläste der Kaiser und Könige das Stadtbild beherrscht, nun inszenierte sich das Bürgertum im Stadtbild. Die Wiener Ringstraße ist ein herausragendes Beispiel dieser Epoche mit einem Rathaus, das aussieht wie eine Kathedrale, dem klassizistischen Parlament, der Universität, dem Burgtheater, einem wuchtigen, eindrucksvollen Museums-Doppelbau und der Wiener Staatsoper. Treibende Kraft ist laut Historiker Osterhammel ein Nachlassen absolutistischer Reglementierung, breitere politische Repräsentation, neue Massenmedien und die Organisation von Interessengruppen und politischen Parteien in der städtischen Arena. Für die Generation von Karl Marx und John Stuart Mill dominierte nun die Industrie im städtischen Raum die Volkswirtschaften. Arbeitsprozesse wurden immer mehr synchronisiert, durch die neue Verkehrstechnik wurde die Bewegung von Menschen, Gütern und Lebensmitteln innerhalb der Stadt und im Austausch mit dem Umland immer mehr beschleunigt. Das Tempo wuchs.

Das neue Antlitz der Stadt

Das London der frühviktorianischen Periode, Paris, New York, St. Petersburg, Wien nach 1890, das Berlin der 1920er Jahre und das Shanghai der 1930er Jahre sind die ersten Städte der Moderne in ihrer Region. Der Welthandel boomte und die großen Hafenstädte mit ihm. Bis zum amerikanischen Bürgerkrieg dominierten New Yorker Zwischenhändler, Reeder, Versicherer und Bankiers den internationalen Handel der Südstaaten. China war wiederum zwischen 1842 und 1861 gezwungen worden, die sogenannten "Treaty Ports" für den Überseeverkehr zu öffnen. Gegen Ende des Jahrhunderts waren aber nur Shanghai und die britische Kronkolonie Hongkong den Anforderungen der transozeanischen Handelsschifffahrt gewachsen, in Nordchina waren es Tianjin sowie Dalian an der Südspitze der Mandschurei.

New York war zur wichtigsten Stadt der USA aufgestiegen. Schon seit 1820 war der New Yorker Hafen der wichtigste Umschlagplatz für das wichtigste Exportgut der USA – Baumwolle. Doch die Rolle New Yorks änderte sich, so wie sich die Rolle vieler wichtiger Metropolen des Weltmarkts änderte, wie die Stadtforscherin Saskia Sassen feststellt. Die Handelsgesellschaften brauchten schon seit jeher Finanz- und andere Dienstleistungen. Heute dominieren diese Dienstleistungsindustrien, sie generieren mit Abstand am meisten Profit. Bis zum Jahresende 2004 betrug der Wert aller auf der Welt gehandelter Waren rund eine Billion Dollar, verglichen mit 262 Billionen der globalen Finanzdienstleistungsindustrie. Bis 2008 war dieser Wert auf 600 Billionen Dollar angestiegen. Die Kapitalen des Kapitals umspannen wie ein Netzwerk den Globus: von Tokio über Hongkong bis nach Frankfurt, London und New York.
Das Antlitz der Städte ändert sich immer und immer wieder. Die heutigen Stadtbewohner erwarten eine lebenswerte Stadt, weniger Abgase, Gestank, Autolärm. Mehr Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Fahrradwege anstelle von Stadtautobahnen – Städte nach menschlichem Maß. Die Stadt soll nicht mehr für Gott, Kaiser oder Mammon da sein – sondern für den Bürger.

Print-Artikel erschienen am 28. August 2015 In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-9.