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Ankämpfen gegen den Kollaps

Von Markus Schauta

Die 20-Millionen-Stadt Kairo ist eine der größten, dichtest bevölkerten und am meisten verschmutzten Städte der Welt. Ägyptens Regierung hat Kairo weitgehend sich selbst überlassen und konzentriert sich auf neue Prestigeprojekte: Sie will eine neue Hauptstadt aus dem Boden stampfen.


May Al-Ibrashi ist die einzige Frau an diesem Vormittag im Kaffeehaus in der Khalifa-Straße. Ein alter Mann saugt im Schatten eines Feigenbaumes an seiner Wasserpfeife, andere trinken Tee und sehen den Tuk-Tuks zu, die über die Sandstraße holpern. Das Khalifa-Viertel ist ein alter Stadtteil Kairos, dicht bebaut, abgewohnt, die Mieten billig. Al-Ibrashi leitet eine ägyptische NGO, die sich für die Aufwertung des Stadtteils einsetzt. "Wir arbeiten eng mit den Bewohnern des Viertels zusammen", sagt die Architektin. Die Straße vor dem Kaffeehaus sei ein Beispiel dafür, was in Kairo falsch laufe: "Die Häuser verfallen, Kanalisation und Stromnetz sind überlastet." Der Eindruck, dass Kairo aus allen Nähten platze, sei falsch. "Es könnten viel mehr Menschen in Kairo leben, wenn die Stadt vernünftig verwaltet wäre."

Geisterstädte in der Wüste

Doch das Geld fließe woanders hin. Al-Ibrashi meint damit das Langzeitprojekt Wüstenstädte, das die Regierung nun schon seit über 30 Jahren verfolgt. 1974 gab der damalige Präsident Anwar As-Sadat den Startschuss zum Bau von vier Satellitenstädten, die die stark wachsende Bevölkerung Kairos aufnehmen sollten. Präsident Hosni Mubarak trug das Projekt weiter. Der Zensus von 1996 zeigte, dass weit weniger Menschen in den Wüstenstädten lebten, als erwartet. Doch es wurde weiter gebaut. Aber anders als in die frühen 90ern, als der Staat vorwiegend auf günstige Wohnungen für Arbeiter setzte, begann er nun Wüstenland billig an private Firmen zu verkaufen. Diese Firmen schufen teuren Wohnraum für die obere Mittelklasse und die Reichen. 2006 gab es einen weiteren Zensus: Anders als die vom staatlichen Planungsbüro geschätzten 1,7 Millionen, lebten in den acht Neustädten rund um Kairo nur 610.000 Menschen. 63 Prozent der Wohnungen wurden nicht genutzt.

Al-Ibrashi hat ihren Minztee ausgetrunken. Sie geht zur Baustelle auf der anderen Straßenseite, wo ein Heiligenschrein aus dem 13. Jahrhundert renoviert wird. "Frau Duktur", rufen die Arbeiter, es gebe ein Problem; das alte Mauerwerk ist immer noch feucht. Die Architektin weiß, woran es liegt: "Ab einem halben Meter Tiefe wird das Erdreich nass." Das liege am kaputten Kanalsystem. "Abwasser rinnt aus den Rohren, vergiftet den Boden und steigt als Feuchtigkeit in die Wände." Es sei daher dringend sanierungsbedürftig. Doch die Regierung hat andere Prioritäten. Al-Ibrashi deutet auf eine riesige Baugrube hinter dem Mausoleum. "Hier baut die Regierung um 40 Millionen Ägyptische Pfund eine neue Moschee", sie kann ihren Ärger nicht verbergen. Die Ibn Tulun Moschee sei fünf Minuten entfernt, ganz zu schweigen von den vielen kleinen Moscheen des Viertels. "Es ist lächerlich, das Letzte, was das Viertel braucht, ist eine neue Moschee", sagt Al-Ibrashi und starrt in die Baugrube. Die Situation in Kairo verschlechtere sich zusehends, sagt sie. "Aber nicht, weil zu viele Menschen in der Stadt leben, sondern weil es kein vernünftiges Management gibt."

"Es dreht sich alles ums Geld"

Die Qasr Al-Ainy ist eine stark befahrene, vierspurige Straße im Zentrum Kairos. Es ist 9 Uhr am Vormittag – Rush Hour. Plötzlich ein lautes Scheppern, Metall schleift über Asphalt. Ein Moped schlittert die Straße entlang und knallt gegen die Bordsteinkante. Etwa 20 Meter die Straße hinauf liegen zwei Männer am Boden, offensichtlich verletzt. Der eine versucht aufzustehen, schwankt und setzt sich dann rücklings auf die Straße. Einige Passanten kommen zu Hilfe. Dann ein Polizeiauto; langsam fährt es an der Unfallstelle vorbei. Die Polizisten sehen die Verletzten, sehen das Moped auf der Straße – und fahren weiter. "Die Polizei fühlt sich nicht zuständig", sagt Hassnaa und wechselt auf die zweite Spur. Der Verkehr sei weitgehend sich selbst überlassen. Verkehrs- und Parkregeln werden selten kontrolliert, sagt sie. "Schon gar nicht, wenn du ein teures Auto fährst. Du könntest ja das Kind einflussreicher Eltern sein und das würde große Probleme für den Polizisten bedeuten."

Kairo ist eine Stadt der Autos. Etwa zwei Millionen private Autos sind in Kairo registriert. Und ihre Zahl wächst, motiviert durch die Regierung, die den Benzinpreis niedrig hält und wenig in öffentliche Verkehrsmittel investiert. Hassnaa hat sich für heute den Hyundai ihres Vaters ausgeliehen, weil sie Erledigungen in Downtown zu machen hat. Sie drückt ständig auf die Hupe, wie es hier alle machen. Beim Überholen: Achtung, ich komme! Im Stau: Fahrt endlich weiter! Beim Abbiegen: Ich habe Vorrang! Hassnaa lebt in Heliopolis, einem besseren Stadtteil im Nordosten Kairos. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln braucht sie etwa eine Stunde zur Arbeit in einer Sprachschule im Zentrum der Stadt. Zuerst mit dem Minibus, dann mit der Metro, die letzte Strecke zu Fuß. "Die Metro ist sauber und klimatisiert, aber du kannst nur wenige Punkte in der Stadt erreichen", sagt Hassnaa. Zu den Stoßzeiten seien die Wägen regelmäßig überfüllt. "Sexuelle Belästigungen sind ein großes Problem in Kairo", sagt sie, "Trotz Kopftuch." Das erspare sie sich im eigenen Auto. "In der Metro gibt es zwar getrennte Abteile für Männer und Frauen, aber nur untertags."

Die drei Metrolinien Kairos transportieren täglich etwa vier Millionen Passagiere auf insgesamt 70 Kilometern. Die erste Linie eröffnete 1987, die zweite 1999. Die dritte Linie ist zurzeit nur auf vier Stationen befahrbar, soll aber irgendwann den Flughafen mit der Innenstadt verbinden. Eine vierte und fünfte Linie existieren am Reißbrett. Einen wesentlichen Teil des öffentlichen Transports leisten private Minibusse. Ihr Routennetz spant sich über ganz Kairo. Vor allem in den ärmeren Stadtvierteln, wie Imbaba oder Bulaq, wird der Großteil des Transports über private Minibusse abgewickelt. Die Besitzer versuchen ihre Busse möglichst viele Stunden am Tag am Laufen zu halten, um Einnahmen zu maximieren. Das führt dazu, dass die Fahrzeuge schlecht gewartet und Unfälle häufig sind. Der Konkurrenzkampf ist groß: Wer schneller bei den wartenden Passagieren ist, macht das Geld. Also wird aufs Gas getreten, wer bremst, verliert (Fahrgäste). Gehalten wird überall, wo Leute ein- oder aussteigen wollen, was zusätzlich zur Staubildung beiträgt.

"Zur Rush-Hour kann es schon vorkommen, dass für zwei Stunden gar nichts mehr geht", sagt Hassnaa. Die Fahrt zur Arbeit wird zur täglichen Odyssee, wenn sich die Blechkolonnen unter lautem Gehupe im Schneckentempo durch die Straßen schieben und die Einsatzfahrzeuge von Rettung und Feuerwehr im Verkehr stecken bleiben. An die Pläne der Regierung, den öffentlichen Verkehr auszubauen, will Hassnaa nicht recht glauben. Es gab einen Plan, den Stadtteil "Neukairo" und das alte Kairo mit einer modernen Straßenbahn zu verbinden, sagt sie. Aber nach einer Berechnung hat die Regierung das Projekt auf Eis gelegt – die Linie würde keinen Gewinn abwerfen. "Es dreht sich alles ums Geld", sagt Hassnaa und drückt auf die Bremse, weil wieder einmal nichts mehr geht.

Kairo, ein sinkendes Schiff?

Yahyia Shawkat hat sein Büro in Maadi, ein Vorort im Süden Kairos. Eine Klimaanlage kühlt die Luft im Großraumbüro auf 28 Grad herunter. Ein langer Schreibtisch mit allerhand Papieren und Laptops, auf denen Post-its mit Notizen kleben. Shawkat, schwarzgerahmte Brille, zurückgelegtes Haar, betreibt Stadtforschung mit sozialer Perspektive, wie er es nennt. Mit seinem Team erarbeitet er Statistiken zur Wohnsituation Kairos, will aufzeigen, wo die Probleme der Stadt liegen. Der Architekt hat sich vor allem die informellen Wohngebiete Kairos angesehen. Informell werden sie bezeichnet, weil die Häuser zum Großteil auf privatem Ackerland erbaut wurden, das nicht als Bauland vorgesehen war. Rote Ziegelmauern, gestützt von Betonsäulen, dicht aneinander gebaut, sind das typische Bild dieser Wohngegenden. Die Straßen sind eng, Lichtschachte ersetzen Fenster, wo Häuser Wand an Wand stehen. "Die Menschen kaufen anfangs ein kleines Stück Land, vielleicht 100 Quadratmeter", sagt Shawkat. "Darauf bauen sie dann ein Haus für sich und ihre Familie. Sobald Geld da ist, können sie Stockwerke dazu bauen. Für Eltern, Kinder, Enkel, jeder bekommt ein Stockwerk." Diese neuen Siedlungen können meist an die Strukturen bereits bestehender urbaner Zentren anknüpfen. Geschäfte, Schulen, Hospitäler, Jobs seien dank der Minibusse auch ohne eigenes Auto erreichbar. "Der Nachteil ist, dass die neu entstandenen Wohngebiete anfangs nicht ans Wasser- und Abwassersystem angeschlossen sind", weiß der Architekt. "Es kann Jahre dauern, bis die Regierung handelt."

Die Wüstenstädte hingegen sind für viele nicht attraktiv. Die Grundstücke dort sind 400 bis 500 Quadratmeter groß und entsprechend teurer. Weite Gebiete bleiben über Jahre hinweg Geisterstädte, mit wenigen Einwohnern und ohne Nahversorgung, so Shawkat. Hinzu komme, dass es nur wenige Jobs in den neuen Städten gebe. "Viele, die dort leben, pendeln jeden Tag nach Kairo zur Arbeit. Andere haben zwar in den Industriegebieten der Wüstenstädte Arbeit gefunden, können sich aber die Wohnungen dort nicht leisten." Shawkat beugt sich über einen Stadtplan von Kairo. "Hier ist das gewachsene Kairo", und er deutet auf ein Areal aus Häuserblocks und Straßen, geteilt vom Nil, umgeben von weißen und beigen Flächen, die informelle Siedlungen markieren. "Und hier, weit entfernt, die Wüstenstädte." Die Distanzen seien groß, Froschsprünge nennt er es, wo zwischen dem alten Kairo und den Neustädten weite, leere Flächen liegen. Jeden Tag stauen sich die Autokolonnen zwischen Kairo und den Wüstenstädten. "Dass man zur Rush Hour zwei Stunden für eine Strecke braucht, ist keine Seltenheit."

Shawkat ist davon überzeugt, dass man im alten Kairo neuen Wohnraum schaffen und alten aufwerten könne. "Um aber diese Zonen aufzuwerten, muss man erst einmal wissen, woran es wo mangelt." Die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Stadtteilen sei nicht hilfreich, so der Architekt. Sage sie doch wenig über die Lebensqualität aus. "Es gibt informelle Gebiete, wo die Häuser gut gebaut und ans Strom-, Wasser- und Abwassersystem angeschlossen sind." Und es gebe formelle Gebiete, wie etwa das Khalifa-Viertel, die sozial benachteiligt sind, wo es an Infrastruktur und Lebensqualität fehle. Auf diese Mängel gelte es hinzuweisen. "Darauf aufbauend kann die Regierung Programme starten, um etwa die Wasserversorgung zu verbessern, Abwasserprobleme zu lösen und leistbaren Wohnraum zu schaffen."

Vorausgesetzt, die Regierung will es. Doch zurzeit hat sie andere Prioritäten. "Fünf Milliarden Pfund sind ins diesjährige Budget eingeplant, um Infrastruktur für die neue Hauptstadt zu schaffen", sagt Shawkat. Für die Regierung ist die neue Hauptstadt ein Geschäft, weil sie das Land, durch Kanal-, Strom- und Abwassernetz aufgewertet, verkaufen kann. "Die Frage ist, ob all das Geld tatsächlich für Investitionen genutzt werden wird, die der Bevölkerung zugutekommen." Shawkat ist skeptisch. Zu viele Versprechen wurden am Ende doch nicht eingelöst.