Kings Cross, London, 24. Juni 2016, 7 Uhr früh: Ein Grüppchen junger Leute traut ihren Augen nicht. Sie haben die ganze Nacht durchgefeiert, jetzt starren sie ungläubig und mit geröteten Augen auf den TV-Bildschirm. BBC sendet seit Stunden, es gibt keinen Zweifel: Die Briten haben sich klar für den Austritt aus der EU entschlossen. Exit, Brexit, Vorhang zu.
Auf den Straßen Londons herrscht an jenem Tag beides: klammheimliche Freude und große Sorge. Zwei Arbeiter im Blaumann sind zufrieden: "Alle die ungelernten Ausländer, die nur das Sozialsystem belasten, werden jetzt abgeschoben", freut sich einer der beiden. "Die, die wir brauchen und die hart arbeiten, die sollen bleiben", ergänzt der andere. Ein anderer Passant ist unglücklich: Was soll jetzt aus Nordirland werden? Kommt die Grenze zur Republik Irland wieder? Und kann Großbritannien alleine bestehen?
Heute, zwei Jahre danach, hat sich die Aufregung gelegt. Man hat sich in Großbritannien mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Premierminister David Cameron, der sein Land aus der EU manövriert hat, ist längst zurückgetreten. Seine Nachfolgerin Theresa May plagt sich sichtlich, das Projekt möglichst glimpflich über die Runden zu bringen. In Brüssel und im Rest Europas kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die britische Regierung ohne jeden Plan agiert. Schritt für Schritt mussten die britischen Befürworter eines EU-Austritts einräumen, dass ein Leben auf eigene Faust nicht so schillernd ist wie erträumt.
Teure Scheidungskosten
Da ist zunächst einmal die saftige Abschiedsrechnung in Höhe von 40 bis 44 Milliarden Euro. Wie die künftige EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland künftig aussehen soll, ist völlig unklar. Eine "harte" Grenze mit Schlagbäumen und Kontrollen soll es jedenfalls nicht geben, ist man sich in London und Brüssel einig. Der Vorschlag, dass Nord-
irland de facto im EU-Binnenmarkt und der Zollunion bleiben könnte, hat wütende Proteste aus London, wo die nordirischen Unionisten mit in der Regierung sitzen, zur Folge. Die Rede ist von einem "Angriff auf die verfassungsmäßige Integrität des Vereinigte Königsreiches". Und das, nachdem wegen der royalen Hochzeit zwischen Prinz Harry und Meghan Markle die Brust vor Nationalstolz geschwellter ist denn je.
Geeinigt hat man sich jedenfalls darauf, dass der EU-Austritt Großbritanniens Ende März 2019 über die Bühne gehen soll. Die Gespräche über den Austrittsvertrag müssten dafür freilich bis Oktober abgeschlossen sein, damit kommt dem österreichischen EU-Vorsitz bei den finalen Verhandlungen eine besondere Bedeutung zu. Geeinigt hat man sich auch darauf, dass es nach dem Brexit eine Übergangsfrist von 21 Monaten geben soll. Der "Telegraph" berichtete zuletzt, dass man in London darüber diskutiere, die Übergangsphase um zwei Jahre zu verlängern. Die britische Regierung befürchte, dass der bisher vereinbarte Zeitraum nicht ausreichen werde, um sich mit der EU über neue Handelsbedingungen zu einigen.
Innere Uneinigkeit
Das Hickhack um den Brexit, die Rückzieher der Regierung und der Zeithorizont, der sich immer weiter nach hinten verschiebt, sorgen für Ärger. Die "Brexiteers" wollen, dass es endlich losgeht, man ist genervt von den zähen Verhandlungen und den fehlenden Erfolgen auf dem diplomatischen Parkett. Dazu kommt, dass man sich innerhalb der britischen Regierung über den Brexit-Kurs nicht einig ist. Das Kabinett May schwankt zwischen lautstarken Ansagen von Hardlinern wie Außenminister Boris Johnson oder Brexit-Minister David Davis und Kompromissangeboten von EU-freundlicheren Politikern wie Schatzkanzler Philip Hammond. Dazwischen versucht die Premierministerin, den Karren irgendwie aus dem Dreck zu ziehen. Kein erhebender Anblick für Brexit-Fans, die Fremdbestimmung loswerden und wieder Herr im eigenen Haus sein wollten. Der Traum der Austrittsbefürworter, alle EU-Fesseln abzuschütteln und künftig als Steueroase Geschäfte und Investitionen aus aller Welt anzulocken, dürfte kaum in Erfüllung gehen. Die EU-feindliche Partei Ukip hat es längst zerbröselt, Ex-Parteichef und Brexit-Hardliner Nigel Farage trommelt unverdrossen für einen schnellen Bruch ohne Übergangsfrist. Das Vereinigte Königreich habe nicht den Wunsch, "ein Vasallenstaat zu sein", wettert seine britische Gesinnungsgenossin Diane James im EU-Parlament.
In den mittelenglischen Industriestädten, wo 2016 die Zustimmung zum Brexit am größten war, ist man verstimmt. Die "einfachen Leute", die oft genug von Arbeitslosigkeit bedroht sind und gerade so über die Runden kommen, halten die EU für einen Abzocker-Verein und May für völlig inkompetent. Mittlerweile dämmert manchem, der für den Brexit gestimmt hat, dass die Zuwanderung vom Kontinent nicht einfach abgewürgt werden kann, wenn dadurch britische Krankenhäuser, britisches Gastgewerbe, britische Landwirtschaftsbetriebe ins Trudeln kommen. Spediteure erfahren, dass ihnen in Dover endlose Schlangen drohen, wenn an den Grenzen keine versöhnliche Regelung gefunden wird. Wirtschaft und Finanz haben seit eh und je gewarnt, dass jede scharfe Absetzung von der EU gefährliche Folgen hätte.
Es mangelt aber an Alternativen. Außenminister Johnson, der erzkonservative Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg und Labour-Chef Jeremy Corbin seien Narren, hört man hier. Laut Meinungsumfragen halten 44 Prozent die Politik ihrer Regierung für chaotisch, nur noch 29 Prozent glauben, ihnen werde es nach dem Brexit besser gehen.
Trotzdem ist fraglich, ob eine weitere Abstimmung über einen Austritt aus der EU anders ausginge als vor zwei Jahren. Die wirtschaftlichen Einbrüche waren bisher noch nicht so einschneidend, dass sie ein Umdenken im großen Stil ausgelöst hätten. Politologen weisen immer wieder darauf hin, dass für die Briten der Verbleib im gemeinsamen Binnenmarkt zwar wichtig sei, wichtiger sei aber der Erhalt der vollen Souveränität über die Immigration. Die Vorstellung vieler EU-Befürworter auch im Rest Europas, dass die "Brexiteers" nun reumütig zu Kreuze kriechen würden, erfüllt sich nicht. Außerdem ist der Weg zurück ohnehin versperrt: "Das britische Volk hat entschieden, die EU zu verlassen. Und das werden wir am 29. März 2019 tun", hat May bei mehr als einer Gelegenheit klargemacht.
Wirtschaftlicher Abschwung
Unterdessen vollzieht sich der wirtschaftliche Abschwung. Schrittweise und langsam, aber doch. Das Wachstum der britischen Industrie ist laut Firmenumfragen auf den niedrigsten Stand seit 17 Monaten gefallen, die Stimmung in der Wirtschaft trübt sich ein. Die Wachstumsrate werde sich gegenüber dem Vor-Referendum-Jahr 2015 halbieren, prognostiziert die OECD. Lediglich um 1,2 Prozent soll die britische Wirtschaft 2018 zulegen – einen Prozentpunkt weniger als die Eurozone. Die Inflation zieht an, das Pfund ist schwach, die Einzelhandelsumsätze sind zuletzt geschrumpft. Die Unternehmen halten sich bei Investitionen zurück – wer weiß, ob man künftig noch in die kontinentalen Wirtschaftsstrukturen eingebunden sein wird?
Und gerade das wäre wichtig in einer Welt, die zusehends zersplittert, in konkurrierende Blöcke zerfällt, in der wirtschaftliche Barrieren wieder hochgezogen werden. Und in der, US-Präsident Donald Trump sei Dank, wieder verstärkt mit dem Säbel gerasselt wird.