Grenzenlos lernen, studieren, forschen und arbeiten: Das ist die Grundidee, wenn es um einen europäischen Bildungsraum, um die Europäische Union an sich geht. Ziel ist, einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder frei und mühelos bewegen kann. In dem es die Norm ist, einen Teil der Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat zu verbringen und vielleicht in einem weiteren zu arbeiten – ohne dabei von Grenzen behindert zu werden. Es geht um die Schaffung einer europäischen Identität. Um Qualifikation und Wettbewerbsfähigkeit. Der Schlüssel zu einem solchen Raum ist eine vergleichbare Bildung von klein auf. Also lernen, und zwar lebenslang und auf hohem Niveau.
Mit dem Start des sogenannten Bologna-Prozesses vor 20 Jahren haben sich die Mobilität der Studierenden und die Vergleichbarkeit der Studien innerhalb der Europäischen Union bereits um einiges erhöht. In Österreich ging damit die Umstellung der Abschlüsse von Magister und Doktor auf das dreigliedrige System Bachelor/Master/PhD (Doktorgrad) einher. Ermöglicht wurde der Bologna-Prozess zum Teil durch Erasmus (European Region Action Scheme for the Mobility of University Students): ein Förderprogramm der Europäischen Union, das seit 1987 besteht und 2014 mit anderen Programmen zu Erasmus Plus verschmolz. Heute werden im Rahmen von Erasmus Plus Auslandsaufenthalte an Universitäten sowie die berufliche und schulische Bildung gefördert.
Drittrangige Schulbildung
Letztere wurde bisher aber eher stiefmütterlich behandelt. In der Erasmus-Plus-Förderperiode von 2014 bis 2017 – der Finanzrahmen ist für 2014 bis 2020 beschlossen – war die Schulbildung mit einer Fördersumme von insgesamt rund 14 Millionen Euro (EU-Mittel und nationale Mittel) nach der Hochschul- (66 Millionen Euro) und Berufsbildung (31 Millionen Euro) drittrangig. Das möchte man nun ändern, heißt es vom Österreichischen Austauschdienst (OeAD), der zentralen Servicestelle für europäische und internationale Mobilitäts- und Kooperationsprogramme in Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Europaweit sollen im heurigen Jahr für Partnerschaften im Schulbereich 280 Millionen Euro zur Verfügung stehen, das sind um 40 Prozent mehr als voriges Jahr. Dadurch will man den Zugang für Schulprojekte vereinfachen, in deren Rahmen Schüler auch mobil werden und für wenige Tage bis zu ein Jahr lang an eine ausländische Schule gehen können.
Schulen, aber auch Kindergärten oder andere für die (Vor-)Schulbildung relevante Organisationen aus verschiedenen Ländern sollen vermehrt zusammenarbeiten. "Ziel einer strategischen Partnerschaft sind das Voneinander-Lernen und die Unterstützung und Implementierung innovativer Methoden und Materialien für das Lehren und Lernen", so der OeAD. Auslandsaufenthalte von Schülern, Pädagogen und Schulpersonal seien ein wesentlicher Bestandteil davon.
Verdopplung des Budgets
Durch den kommenden Finanzrahmen für Erasmus Plus für 2021 bis 2027 könnten mehr Projekte wie diese möglich werden: Der Entwurf der EU-Kommission sieht eine Verdoppelung des Budgets auf 30 Milliarden Euro vor. In anderen Worten: Statt der insgesamt vier Millionen europäischen Jugendlichen, die Erasmus im Jahr 2017 EU-weit in Anspruch genommen haben, sollen es künftig acht Millionen sein. Einen Beschluss wird es aber voraussichtlich erst Ende des Jahres geben.
Um Abschlüsse im gesamten Bildungsbereich international vergleichbar zu machen, hat der Nationalrat 2016 einen achtstufigen Nationalen Qualifikationsrahmen (NQR) beschlossen. Dieser ist auf Basis des Europäischen Qualifikationsrahmens konzipiert, der bereits seit 2008 vorliegt und zentrales Element des Arbeitsprogramms "ET 2020" ist: ein strategischer Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung. Lebenslanges Lernen und Mobilität, Chancengleichheit, Innovation und Kreativität sollen damit gefördert werden. Wichtige Ziele sind die Senkung der Zahl der Schulabbrecher auf unter 10 Prozent und die Erhöhung des Anteils der 30- bis 34-Jährigen mit einem tertiären oder gleichwertigen Bildungsabschluss auf mindestens 40 Prozent im Jahr 2020.
Der NQR hat allerdings ausschließlich eine orientierende und keine regulierende Funktion. Das heißt, dass die Zuordnung einer Qualifikation zu einer Stufe keine schulischen, hochschulischen oder beruflichen Berechtigungen mit sich bringt. Welche Qualifikationen wo hingehören, ist im Gesetz nur ansatzweise geregelt. Gesetzlich vorgegeben sind Bachelorstudien, die demnach der Niveaustufe sechs zugeordnet sind, Master- und Diplomstudien der Stufe sieben und Doktorats- und PhD-Studien der Stufe acht. Über den Rest sollen diverse, durch das Gesetz eingerichtete Stellen entscheiden: eine NQR-Koordinierungsstelle, ein NQR-Beirat und eine NQR-Steuerungsgruppe. Eingeordnet werden dabei sowohl formale Qualifikationen wie bestimmte Abschlüsse als auch durch informelles Lernen erworbene Kompetenzen, wie am Arbeitsplatz gewonnene Erfahrungen oder Sprachen, die während eines Auslandsaufenthalts erlernt werden. Die Aufgaben der Koordinierungsstelle übernimmt der OeAD.
Mehr Abschlüsse
Auf Basis der Entscheidungen dieser Stellen wurden im Vorjahr weitere Abschlüsse zugeordnet. Alle mindestens dreijährigen, berufsbildenden mittleren Schulen (zum Beispiel Handels- oder Fachschulen) sowie die 213 gewerblichen, industriellen sowie land- und forstwirtschaftlichen Lehrberufe werden künftig auf dem NQR-Niveau vier zu finden sein, alle Fachrichtungen der berufsbildenden höheren Schule (zum Beispiel HTL, HAK, Bildungsanstalt für Elementarpädagogik) auf dem NQR-Niveau fünf. Der (HTL-)Ingenieur steht nun auf derselben Qualifikationsstufe wie der (akademische) Bachelor, also auf Stufe sechs. Für die Erlangung dieser Qualifikation müssen gewisse formale Voraussetzungen erfüllt sein, etwa ein HTL-Abschluss und eine dreijährige fachbezogene Praxis. Hochschulische Berechtigungen sind damit aber nicht verbunden – der Ingenieur kann also kein Masterstudium beginnen. Weitere Qualifikationen aus dem formalen Bildungsbereich sollen noch heuer folgen, heißt es auf Nachfrage aus dem Bildungsministerium.
Mit diesem gemeinsamen europäischen Bildungsraum möchte man vor allem "einen Raum für Erfahrungsaustausch" schaffen, sagt Andreas Schleicher, der bei der OECD Leiter des Direktorats für Bildung ist. "Jeder arbeitet so vor sich hin", sagt Schleicher, "dabei gibt es europaweit so viele unterschiedliche Ansätze im Bildungsbereich." Es gehe um die Erweiterung des Horizonts, um Vielfalt und um gemeinsame Ziele. Um Bereicherung – und nicht um Einschränkung. Denn: "Innovation entsteht nur dort, wo es verschiedene Sichtweisen gibt." Voraussetzungen dafür seien jedoch eine gemeinsame Sprache und das – auf Wissen basierende – Vertrauen in die Kompetenz der anderen Länder.
Schleicher begegnet damit den Kritikern von Bologna und Standardisierung, die diese als Korsett empfinden. Dabei habe die EU nicht einmal die Standardisierung der Abschlüsse auf Bachelor, Master und PhD vorgegeben, sagt er, das sei vielmehr die Entscheidung der einzelnen Universitäten. "Es soll nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben gehen. Was Bologna geschaffen hat, ist lediglich ein Referenzrahmen."
"Intellektueller Kahlschlag"
Bildungsexperte Stefan Hopmann kann diesem Rahmen dennoch wenig abgewinnen – vor allem nicht, was den Schulbereich betrifft. Denn die Pisa-Studien der OECD (internationale Schulleistungsuntersuchungen der 15-Jährigen) bilden gut ab, dass die europäischen Länder zwar ähnliche Lehrpläne haben, die Schüler aber dennoch je nach Region extrem unterschiedlich abschneiden. "Wie ein Lehrplan gelebt und verstanden wird, ist regional sehr spezifisch", sagt Hopmann. Und das sei gut so, meint er. Denn Schule brauche Spielraum.
"Schulen krampfhaft standardisieren zu wollen, ist schädlich für die Qualität des Unterrichts, des Lernens und damit für Europa." Allein die letzten drei, vier Wochen, die Schüler für einheitliche
Tests zur "Kompetenzorientierung" lernen, würden im gesamten Lernprozess fehlen und seien ein "intellektueller Kahlschlag". Schüler derselben Schulstufe hätten zudem einen schulfachlichen Abstand von bis zu drei Jahren. Alleiniger Gewinner sei die europäische Lehrmittelindustrie.
Im Hochschulbereich habe die neue Architektur mit Bachelor/Master/PhD sogar zum genauen Gegenteil des Erwünschten geführt: zu Mobilitätshindernissen. "Die Studierenden werden gezwungen, genau anzugeben, welche Vorlesungen sie in welcher Frist absolvieren. Dadurch können sie nicht einfach so an eine andere Uni wechseln", so Hopmann. Nicht intendierte Nebeneffekte wie diese seien oft dramatischer als gedacht.
Bologna "problematisch umgesetzt"
Auch Hochschulforscher Hans Pechar sieht Bologna "problematisch umgesetzt" – obwohl er die Idee dahinter grundsätzlich für gut hält. Das Problematische daran sei jedoch, wie die nationalen Akteure damit umgehen. In Österreich und Deutschland zum Beispiel werde der Bachelor als Zwischenabschluss gewertet, während er in anderen Ländern am Arbeitsmarkt anerkannter sei. Somit habe man es "geschafft, gleiche Credits, aber unterschiedliche Standards" zu schaffen. Pechar ist daher "sehr, sehr skeptisch", wie er sagt, wie weit eine Ausdehnung des europäischen Bildungsraumes auf den Schulbereich gelingen kann und wird.
Der große Mehrwert der EU-Bildungszusammenarbeit liege nicht in der Gesetzgebung, sondern im Erfahrungsaustausch der Mitgliedstaaten zur Umsetzung bildungspolitischer Vorhaben, kontert das Bildungsministerium. Von einer Vereinheitlichung der Schulsysteme könne keine Rede sein. Ziel sei es vielmehr, eine Reihe von Maßnahmen und Instrumenten auszubauen und zu stärken, die Kooperationen im Bildungsbereich ermöglichen, beziehungsweise Vergleichbarkeit zwischen den nationalen Bildungssystemen schaffen. Der Fokus liege dabei auf Transparenz und Qualitätsstandards. Eine vertiefende Diskussion dazu werde auf EU-Ebene unter dem österreichischen Vorsitz in der zweiten Jahreshälfte 2018 begonnen. Zu erwartende Vorschläge seien jener für eine "Empfehlung zur Förderung der automatischen gegenseitigen Anerkennung von Hochschulabschlüssen und Abschlüssen der Sekundarstufe II (Oberstufe, Anm.) und der Ergebnisse von Lernaufenthalten im Ausland" sowie der Aufbau eines Netzwerkes Europäischer Universitäten.