"Wiener Zeitung": Die Europäische Union ist in einer schwierigen Situation: intern zerstritten, von den USA mit einem Handelskrieg unter Druck gesetzt und von Russland militärisch bedroht. Wie beurteilen Sie die geopolitische Lage für die EU?
Wolfgang Schmale: Man sollte die transatlantischen Beziehungen in der Vergangenheit angesichts der Präsidentschaft von Donald Trump nicht romantisieren. Früher waren die Botschaften von Washington an Europa vielleicht höflicher und diplomatischer verpackt, aber letztlich geht es bei internationalen Beziehungen auf dieser Ebene um die Durchsetzung von Interessen. Neu ist vielleicht, wie heute in Washington politisches Handeln auf ökonomischem Unverstand aufgebaut wird. Mit Russland gibt es derzeit nicht sehr viele übereinstimmende Interessen, das muss man sich bei allem Gesprächsbedarf, der besteht, klarmachen. Kurzum: Europa steht allein. Vor allem, wenn man alle Werte ernst nimmt, die im EU-Vertrag stehen.

Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für Europa?
Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Europa ist in der Welt auf sich allein gestellt. Ich fürchte, dass das nicht allen auf unserem Kontinent klar ist. Europa ist derzeit vor allem mit der Frage beschäftigt, wie wir mit Migranten und Flüchtlingen umgehen sollen. Ich möchte das keineswegs kleinreden, aber angesichts der Weltprobleme und geopolitischen Risiken, denen wir uns gegenübersehen, erscheint mir die Herausforderung, die sich aus der Migration ergibt, als überschau- und lösbar. Derzeit kann ich aber nicht erkennen, dass die politische Klasse versteht, wo die Musik spielt. Dass wir uns damit herumschlagen müssen, dass Polen oder Ungarn den Rechtsstaat auszuhebeln versuchen - das ist zum Verzweifeln. Dazu kommt dann noch der Brexit-Unfug: Das Ausscheiden des Vereinigten Königreiches ist sehr zu bedauern, denn in London ist man in der Einschätzung der weltpolitischen Lage oft sehr viel weiter als in Paris oder Berlin. Diese Perspektive wird uns fehlen. Schon der Gründer der paneuropäischen Bewegung, Richard Coudenhove-Kalergi, hat beschrieben, wie Europa zwischen den USA und der Sowjetunion eingezwängt ist. Die EU muss aus dem Klein-Klein heraus und sich viel stärker auf die internationalen Herausforderungen konzentrieren.
Warum wirkt die EU so hilflos?
Was wir derzeit erleben, ist eine Renaissance von Machtpolitik. Diese Entwicklung wird uns von außen aufgedrängt. Eine Zeit lang hat die Erweiterungsdynamik der Union Kraft zugeführt, doch diese Phase ist vorerst vorüber. Ich plädiere dafür, dass wir in Europa den Realitäten ins Auge sehen: In der Weltpolitik sind die alten, gefährlichen Machtspiele wieder da. Da können wir nicht weggucken und darauf hoffen, dass die Welt wieder schön und nett ist, wenn wir die Augen wieder geöffnet haben. Darauf müssen wir auf Grundlage unserer europäischen Werte eine Antwort finden. Da schadet uns auch ein wenig Selbstbewusstsein nicht: Denn diese Werte sind ja nicht falsch, daraus kann man eine gewisse Offensivkraft gewinnen. Es ist ja nicht so, dass die EU nichts anzubieten hätte.