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Belgien betoniert politische Krise

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Flämische Separatisten wollen nicht verhandeln. | 390 Tage ohne Regierung, keine Änderung in Sicht.


Brüssel. Das Weltrekordland Belgien hat alle Mitbewerber längst abgehängt. Heute, Freitag, ist das Sitzland der EU seit 390 Tagen ohne Regierung; der Irak mit 289 Tagen und sogar Kambodscha mit 353 Tagen liegen weit zurück. Und seit gestern, Donnerstag, ist auch klar, dass den Belgiern in absehbarer Zeit kaum jemand den Eintrag im Buch der Rekorde streitig machen wird.

Denn die Gegensätze auf beiden Seiten der Sprachgrenze bleiben einbetoniert: Bart De Wever, Chef der flämischen Separatisten von der Neuen Flämischen Allianz (N-VA), hat Koalitionsverhandlungen erneut eine klare Absage erteilt. Seit seinem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen am 13. Juni 2010 bleibt er bei seiner harten Linie und hält das Land damit zuverlässig in der politischen Sackgasse. Weniger Transferleistungen in den ärmeren Süden und mehr Kompetenzen für die Regionen auf Kosten der Zentralregierung verlangt er ultimativ. Die jüngsten Vorschläge des wallonischen Sozialisten Elio Di Rupo für die Beilegung des Sprachenstreits und die Neuverteilung der Zuständigkeiten seien „keine gute Basis für Verhandlungen”, meinte De Wever.

Kompromiss angeboten

Di Rupo war von König Albert II. nach rund elf Monaten ergebnisloser Sondierungsmissionen Mitte Mai mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Er hatte die Wahlen in der französischsprachigen Wallonie gewonnen. Diese Woche legte er ein gut 100-seitiges Kompromisspapier auf den Tisch, dem sieben der neun möglichen Koalitionsparteien als Gesprächsgrundlage zugestimmt haben. Di Rupo ist darin mehrfach über seinen Schatten gesprungen, wirft die Teilung des einzigen gemischtsprachigen Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV), mehr Regionenkompetenzen bei Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Steuerpolitik in die Waagschale.

Zu wenig, erklärte De Wever: Für Flandern „desaströs” sei der BHV-Teilungsvorschlag, weil das zweisprachige Brüssel mehr Geld bekomme; für die geforderte Staatsreform seien kaum neue Elemente erkennbar.

Die flämischen Christdemokraten erklärten umgehend, nicht für Koalitionsgespräche ohne die N-VA zur Verfügung zu stehen. Auch Di Rupo hat seinen Posten als Regierungsbildner davon abhängig gemacht, ob er De Wever an den Verhandlungstisch bekommt. Möglicherweise bietet er dem König heute, Freitag, seinen Rücktritt als Regierungsbildner an.

Abgewählt im Amt

Damit wäre der bisher achte Anlauf für Koalitionsverhandlungen seit den Wahlen gescheitert. Ab Herbst gelten die Chancen auf einen Kompromiss als noch geringer. Denn 2012 stehen Regionalwahlen an, Zugeständnisse an den anderen Landesteil bringen dabei keine Stimmen.

Der geschäftsführende Premierminister Yves Leterme von den flämischen Christdemokraten darf daher wohl noch einige Zeit weitermachen. Vor 390 Tagen abgewählt, führt er eine der stabilsten belgischen Regierungen seit langem.