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Opfer der eigenen Hilflosigkeit

Von WZ-Korrespondentin Alexandra Klausmann

Europaarchiv

50 Prozent aller Roma-Kinder kommen automatisch in die Sonderschule. | Ghettobildung hat in jüngste Zeit rasant zugenommen.


Prag. Geschätzte 200.000 Roma leben in der Tschechischen Republik. Dabei handelt es sich um die Nachkommen derer, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Slowakei nach Böhmen und Mähren zogen, manche mehr, manche weniger freiwillig. Sie sollten die Grenzgebiete besiedeln, die nach der Vertreibung der Deutschen verlassen geblieben waren. "Man verbot ihnen das klassische Zigeunerleben und steckte sie in Plattenbauten und Fabriken", sagt Frantisek Kostlan von der NGO Romea, die das Leben der Roma in Tschechien dokumentiert. Nichtsdestoweniger denken heute viele Roma mit Nostalgie an das kommunistische Regime zurück.

Denn seit dessen Sturz hat sich ihre Lage zunehmend verschlechtert. Jobs, die sie früher unter der sozialistischen Arbeitspflicht verrichteten, machen heute Gastarbeiter aus der Ukraine oder der Mongolei. Und während sich unter den Roma die Arbeitslosigkeit breitmachte, derzeit liegt sie bei rund 90 Prozent, stiegen die Mietpreise nach der Privatisierung des staatlichen und städtischen Wohnungsfonds an. Gab es 1989 ein nur paar Roma-Viertel, so gibt es 2011 über 300 reine Roma-Ghettos.

Ohne Bildung - rund 50 Prozent aller Roma-Kinder kommen automatisch in Sonderschulen für geistig Behinderte, eine Praxis, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2007 als diskriminierend verurteilte - und ohne Lobby werden die Roma zu Opfern ihrer eigenen Hilflosigkeit. Und zu Opfern derer, die vom Antiziganismus der tschechischen Mehrheitsgesellschaft profitieren wollen: Immobilienspekulanten, die die Roma dafür bezahlen, ihre Wohnungen in lukrativeren Stadtvierteln zu verlassen, weil dann deren Marktwert steigt. 86 Prozent der Tschechen, so eine Umfrage, haben ein Problem mit Roma als Nachbarn.

Lokalpolitiker, die wissen, dass die Mehrheitsgesellschaft die Roma als "kriminell" pauschalisiert, verfrachten sie in Ghettos am Stadtrand. Nachdem der damalige Bürgermeister des Städtchens Vsetin, Jiri Cunek, 2006 die Bewohner eines ganzen Mietshauses in eigens gebaute Container neben der Kläranlage weit hinter den Ortsgrenzen verwies, wurde er mit einer überwältigenden Mehrheit von 71 Prozent in den Senat, das tschechische Oberhaus, gewählt und schaffte es sogar zum Vize-Premier. Cunek musste zwar die Regierung wegen eines Bestechungsskandals verlassen, den Ruf als rasanter Kämpfer gegen die "Kriminellen" genießt der Christdemokrat aber bis heute. "Der Konsens in unserer Gesellschaft lautet: ,Wir hassen die Roma", meint Frantisek Kostlan von Romea. In einer großen Umfrage im Dezember 2010 erklärten 40 Prozent der Befragten, sie würden begrüßen, wenn die "cikáni" ganz aus dem böhmisch-mährischen Kessel verschwänden.

Jugend ohne Chance

Es ist die Generation Chancenlos: "Die jungen Roma von heute sind aufgewachsen in Wohnheimghettos und Sonderschulen", sagt Roman Krystof von der staatlichen Agentur für soziale Eingliederung in Roma-Lokalitäten. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nie jemanden näher kennengelernt haben, der längerfristig einer geregelten Arbeit nachgeht, ist groß", meint Krystof. Das Leben der meisten Roma ist ein einziger Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Armut. Wer hineingeboren wird in diese posttraditionalistische Parallelgesellschaft, in der die höchste Autorität den Wucherkönigen, Drogenhändlern und Zuhältern der Ghettos gilt, kommt aus eigener Kraft nicht heraus. Was bleibt, sind Alkohol, Drogen und Spielautomaten. Und die Wut auf die "gadzos", die "Weißen". Doch deren Hass auf die "cikáni" kocht mit der zunehmenden Gewaltbereitschaft junger Roma weiter hoch.

Der Brandherd liegt im "Schluckenauer Zipfel", einer der ärmsten und entlegensten Gegenden Böhmens. Nachdem eine Gruppe von etwa 20 jugendlichen Roma Ende August in Rumburk, unweit von Novy Bor, sechs "Weiße" verprügelt hatte, nahmen die Bewohner der Stadt selber die Prügel in die Hand. Etwa 500 Leute marschierten an einem heißen Freitagabend Ende August auf ein Roma-Wohnheim los. "Die wollten jemanden lynchen", glaubt Frantisek Kostlan, der das Geschehen beobachtete. "Hätte die Polizei nicht eingegriffen, wäre es zu einem Pogrom gekommen, davon bin ich überzeugt", sagt er kopfschüttelnd.

Seit dem Angriff herrscht mindestens zweimal wöchentlich Pogromstimmung in Rumburk und im benachbarten Varnsdorf. Angestachelt von immer neuen Nachrichten über Roma-Kinderbanden, die vor allem schwächere Menschen beschimpfen und bestehlen: Behinderte, Alte, andere Kinder. Angeführt wird die Meute entweder von den Neonazis der Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit (DSSS) oder von Lukas Kohout, einem verurteilten Hochstapler mit Politambitionen, den seine Ehefrau wegen eines Rom verlassen hat.

"Wir sind anständige Menschen", steht auf den Transparenten, die die Demonstranten neben ihren Tschechien-Fahnen hochhalten. "Man sollte die Zigeuner alle in Busse setzen und irgendwo ganz weit wegbringen", fordert ein junger Mann. Andere Demonstranten scheinen eine endgültigere Lösung zu bevorzugen. "Cikani do plynu!", rufen sie - "Zigeuner ins Gas!" Von den ursprünglich 8000 tschechischen Roma und Sinti, die noch 1939 in Böhmen und Mähren lebten, haben nur 600 den Roma-Holocaust überlebt.

Peitsche vom Staat

Angesichts der wöchentlich aufflammenden Unruhen im "Schluckenauer Zipfel" greift der Staat zur Peitsche. Bis zu 50 extra abgestellte Bereitschaftspolizisten sollen für Ruhe zwischen "weißen Rassisten" und "schwarzen Rassisten", wie sich beide Bevölkerungsgruppen gegenseitig beschimpfen, sorgen. Premier Petr Necas macht indes das "viel zu großzügige Sozialsystem" für die soziale Situation der Roma verantwortlich. Er hat angekündigt, Sozialleistungen in Zukunft von gemeinnützigen Arbeiten abhängig zu machen und in Gutscheinen auszuzahlen. Denn, so die Logik, wenn die Roma ihre Sozialhilfe in Zukunft nicht mehr versaufen, verrauchen oder verspielen, müssen sie weniger stehlen.

Der Name "Roma" umfasst verschiedene Volksgruppen, die sich selbst auch als Reisende oder Sinti bezeichnen. Seit Jahrhunderten ziehen sie durch Europa und bilden die größte ethnische Minderheit in der EU. Wie viele Roma es gibt, ist nicht genau bekannt, da in vielen Staaten Daten zur ethnischen Zugehörigkeit nicht erhoben werden dürfen. Schätzungen gehen von etwa zehn Millionen aus. Etwa ein Fünftel der Roma lebt in Rumänien.

Keine andere Bevölkerungsgruppe ist europaweit so sehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Das gilt besonders bei Arbeitsplätzen und Bildungszugang, Gesundheitsvorsorge und anderen staatlichen Angeboten. Viele leben in den Außenbezirken westlicher Großstädte, schlafen auf Gehsteigen und verdienen ihren Lebensunterhalt durch Betteln.