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In Kiew rollt eine Prozesswelle

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Korruptionsbekämpfung oder Verfolgung politischer Gegner?


Kiew. Zum Beispiel Michail Poschiwanow: Der Mann, der von 2007 bis 2010 das Amt eines stellvertretenden Wirtschaftsministers bekleidete, lebt heute in Österreich. Nachdem am 31. Jänner 2010 ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war, trat er die Flucht an. Drei Millionen Euro soll der ehemalige Leiter des Reservefonds der Ukraine veruntreut haben.

Oder Bohdan Danyschlyn: Der war im selben Zeitraum Poschiwanows Vorgesetzter als Wirtschaftsminister. Von der Ukraine wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder über Interpol gesucht, wurde er im Oktober 2010 in Tschechien verhaftet. Er erhielt in Prag politisches Asyl.

Oder Mykola Sinkowskij, ehemals stellvertretender Leiter des Reservefonds. Er sitzt heute im Gefängnis. Im Februar wurde er wegen unrechtmäßiger Aneignung von Eigentum zu zehn Jahren Haft verurteilt. Es war die erste Verurteilung eines hohen Staatsbeamten der Regierung der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko.

Bis auf den Fall von Ex-Innenminister Juri Luzenko, der es mit seinem Hungerstreik in U-Haft schaffte, kurz auf sich aufmerksam zu machen, ging die Prozesswelle gegen führende Mitglieder der Opposition international weitgehend unter. Erst das harte Urteil gegen Timoschenko selbst - sieben Jahre unbedingte Haft - ließ in Brüssel und Washington die Alarmglocken läuten. Bis zu 400 "Anti-Korruptions-Verfahren" laufen derzeit in der Ukraine auf verschiedenen Ebenen - laut den Vertretern der Regierung handelt es sich um unparteiische Prozesse, die endlich das gravierendste Problem des Landes, die Korruption, in Angriff nehmen sollen. Schließlich wird die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf dem 134. Platz gereiht - in der Nachbarschaft von Ländern wie Simbabwe oder Sierra Leone.

Jetzt auch Mordverdacht

Dass es den Machthabern in Kiew aber wirklich in erster Linie um Korruptionsbekämpfung geht, glauben, wie Umfragen zeigen, in der Ukraine nur wenige. Schließlich rollt die Prozesswelle nicht zufällig über Parteigänger der alten Regierung. "Kann schon sein, dass ab und zu ein unbotmäßiger Vertreter von Präsident Janukowitschs Partei der Regionen angeklagt wird, um ihn unter Druck zu setzen. Von Korruptionsbekämpfung kann aber keine Rede sein", sagt der Leiter der Heinrich Böll-Stiftung in Kiew, Kyryl Savin. Sein Kollege Nico Lange von der Konrad Adenauer-Stiftung verweist auf die starke Stellung der Präsidialverwaltung: "Laut Insidern werden Staatsanwälte und Richter direkt von dort beeinflusst, Aufträge für Ermittlungen und Prozesse erteilt und selbst Entscheidungen über Schuld und Unschuld dort getroffen."

Ist es so, dann entscheidet über Timoschenkos Schicksal Präsident Wiktor Janukowitsch selbst. Und der dürfte trotz des Drucks durch die EU im Fall seiner Widersacherin nicht nachgeben wollen: Sogar in Zusammenhang mit einem Mordfall wird jetzt gegen die 50-Jährige ermittelt - dem des Abgeordneten Yevhen Shcherban, der 1996 auf einem Flughafen erschossen worden war.

Timoschenko soll ebenso wie ihr einstiger Förderer Pavlo Lazarenko in die Tat verstrickt sein. Lazarenko, damals Premierminister, befindet sich in den USA wegen Geldwäsche und Betrugs in Haft. In Kiew läuft seit kurzem ein neues Verfahren gegen Timoschenko wegen Steuerhinterziehung in den 1990er Jahren.