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Ungarns Freund-Feind-Schema

Von WZ-Korrespondentin Karin Rogalska

Europaarchiv

Staatspräsident Schmitt droht wegen Plagiatsvorwürfen Demontage.


Budapest. Auf der Straße ließen sich führende Politiker der ungarischen Parlamentsparteien am Wochenende nicht blicken. Dabei hatte etwa die Tageszeitung "Magyar Hirlap" mit dem Konterfei des national-konservativen Ministerpräsidenten Viktor Orban für einen "Friedensmarsch" vom Heldenplatz zum Parlament geworben. Die Bürgerbewegung "Eine Million für die ungarische Pressefreiheit" wiederum, die vor dem Präsidentenpalast im Burgviertel die Ablösung von Staatsoberhaupt Pal Schmitt forderte, hätte mit der sozialistischen MSZP und der grün-liberalen LMP gern zwei Oppositionsparteien hinter sich gehabt, die im Sommer 2010 Schmitts Wahl zum Präsidenten nicht unterstützt hatten. Auch eine Kundgebung der Gewerkschaft der Film- und Fernsehschaffenden gegen Nachrichtenmanipulation und Proteste gegen den Entzug der Frequenz 95,3 für das MSZP-nahe Klubradio fanden ohne ausdrückliche Unterstützung durch Parteien statt.

Knapp 500.000 Menschen und damit theoretisch ein Drittel aller Einwohner von Budapest sollen von Freitag bis Sonntag an Demonstrationen teilgenommen haben. So viele Bürger gingen in Ungarn zuletzt am 6. Juni 1989 bei der Umbettung von Imre Nagy, dem tragischen Nationalhelden des Aufstands von 1956, auf die Straße. 400.000 Menschen, darunter auch Angehörige der ungarischsprachigen Minderheit in der Slowakei, machten sich angeblich allein zum "Friedensmarsch" auf, um dort gegen eine Kolonialisierung des Nachbarlandes durch die Europäische Union zu wettern und Orban ihrer Solidarität zu versichern.

Seit Jänner 2011, als in Budapest das erste Mal seit dem Machtwechsel Großkundgebungen stattfanden, sind solche Zahlenangaben aber mit Vorsicht zu genießen. Jeder, der seither auf die Straße gezogen ist, weiß angeblich Hunderttausende hinter sich. Tatsächlich sind es Zehntausende, und das war auch bei der Prozession für Orban nicht anders. Dennoch demonstrierten die Herrschenden Stärke. Die vielen Polizisten, seit Monaten nahezu täglich mit größeren Protesten gegen Orban konfrontiert, verrichteten ihre Arbeit in aller Ruhe.

Mit Präsident Schmitt wurde allerdings einer aus dem Machtapparat bloßgestellt. Die regierungsnahe Nachrichtenagentur MTI, der bisweilen auch Großkundgebungen kaum eine Zeile wert sind, berichtete ausführlich von den Protesten gegen das Staatsoberhaupt, zu denen einige hundert Demonstranten erschienen. Schmitt soll einen Großteil seiner Doktorarbeit bei einem Bulgaren abgeschrieben haben. Sollte sich das bewahrheiten, will Orban ihn angeblich kaltstellen. Damit wäre ein Weg für die Handhabung der international heftig kritisierten neuen Verfassung vorgezeichnet.

Schon seit Jahren wird in Ungarn über eine zunehmende Politisierung des Alltags und die Spaltung der Gesellschaft in die beiden unversöhnlichen Lager des Fidesz und der Sozialisten beklagt. Seit dem Wochenende scheint diese Differenzierung hinfällig und durch die simple Unterscheidung in Freunde oder Feinde der politischen Ordnung à la Orban abgelöst. "Ihnen gefällt das System", überschrieb die linksliberale "Nepszabadsag" eine Bilderreihe zur Kundgebung in Budapests Zentrum. Sie lehnten die neue Ordnung ab, hatten die Demonstranten der vergangenen Monaten hingegen ein ums andere Mal gegen Orban skandiert.