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Die unfreiwillige Wende

Von Ronald Schönhuber

Europaarchiv

Deutschland plant für den Atomausstieg zehn Jahre. In Japan ging es in einem Jahr.


Tokio. Über Jahrzehnte hinweg war Japan ein entschiedener Befürworter der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Die Atomkraftwerke, die auf Anraten der USA überall im Land gebaut worden waren, befeuerten nach dem Krieg die unaufhaltsam nach oben strebende Wirtschaft, der "Anzen Shinwa"; der Mythos von der sicheren Kernkraft wurde von niemandem hinterfragt. Die Japaner vertrauten all den Heilsversprechungen, die die Politik und die ihr nahestehende Atomindustrie gaben.

Heute ist Japan atomstromfrei. Der letzte der 54 Reaktoren wurde am 6. Mai vom Netz genommen. Die Energiewende, für die sich Deutschland zehn Jahre Zeit nehmen will, und die trotzdem als schwierig zu meistern gilt, wurde im Land der aufgehenden Sonne in knapp einem Jahr vollzogen. Allerdings ist der Atomausstieg weder geplant noch freiwillig passiert. Nach dem Super-GAU von Fukushima verweigerten schlicht und einfach die Provinz- und Stadtregierungen die notwendige Zustimmung zum Wiederhochfahren der zu Wartungszwecken und für Sicherheitsüberprüfungen abgeschalteten Reaktoren. Die Lokalpolitiker wussten dabei die zunehmend atomskeptisch gewordene Bevölkerung hinter sich. Etwas mehr als die Hälfte der Japaner sind gegen die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren. Zählt man diejenigen zusammen, die für einen sofortigen oder einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraft sind, kommt man sogar auf drei Viertel der japanischen Bevölkerung.

Selbst wenn einige Lokalverwaltungen langsam ihre totale Blockadehaltung aufzugeben beginnen, ist damit klar, dass eine allzu schnelle und großflächige Renaissance der Atomkraft für die Regierung von Premierminister Yoshihiko Noda nicht ohne Gefahr wäre. Und da man ein Jahr vor den Wahlen nicht unbedingt einen Absturz riskieren will, legt man sich in Nodas Demokratischer Partei in Sachen Kernkraft nur ungern fest. Für die Atomindustrie steht durch das Hinauszögern viel auf dem Spiel. Sollte das Land auch diesen Sommer, der noch heißer werden soll als der vergangene, ohne Blackouts überstehen, würde das seit Jahrzehnten getrommelte Argument, dass Japan ohne Atomkraftwerke nicht überleben könne, entscheidend an Zugkraft verlieren.

Bis jetzt hat das Land, das vor der Fukushima-Katastrophe rund 30 Prozent seines Energiebedarfs durch Atomstrom deckte, seine Ausfälle durch das Wiederanwerfen von kalorischen Kraftwerken und die massive Einfuhr von Öl und Flüssiggas kompensieren können. Doch die Kosten des Imports haben die Handelsbilanz der Exportnation tief in den roten Bereich gedrückt. Und Japans Industrie droht wegen der unsicheren Lage und nicht auszuschließender Produktionsstillstände bereits mit Absiedlungen.