Karlsruhe. Pünktlich um 10 Uhr traten die Richter vor die Presse - und stimmten dem ESM zu, wenn auch mit Vorbehalten.
Damit kann der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck den ESM-Vertrag unterzeichnen und Deutschland dem permanenten Euro-Rettungsschirm ESM unter Erklärung entsprechender völkerrechtlicher Vorbehalte beitreten. Der künftige Euro-Rettungsfonds ESM soll dadurch am 8. Oktober in Kraft gesetzt werden, wie Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker mitteilte. "Ich plane, das erste Treffen des ESM-Gouverneursrats am Rande des Eurogruppen-Treffens am 8. Oktober in Luxemburg einzuberufen", erklärte Juncker.
Deutschland hat bisher als einziges Euro-Land den Vertrag über den "Europäischen Stabilitätsmechanismus" ESM noch nicht ratifiziert. Erst mit der Beteiligung des größten Mitgliedsstaats kann der Rettungsschirm in Kraft treten.
In Österreich wurde der Ratifizierungsprozess bereits komplett abgeschlossen, aber das Gesetz ist noch nicht in Kraft. Erst wenn die deutsche Ratifizierungsurkunde hinterlegt wird, kann das Gesetz auch in Österreich kundgemacht werden. Dann werden auch hierzulande diverse Verfassungsklagen eingebracht - die FPÖ zum Beispiel hat entsprechende Schritte angekündigt.
Haftungen über 190 Milliarden Euro
In Karlsruhe wurde ein tiefgreifender Politstreit entschieden: Die Kläger sahen im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) nichts anderes als einen Putsch gegen das Grundgesetz und ein unkalkulierbares Haftungsrisiko. Die Verteidiger des Rettungsschirms befürchteten ein Ende der gemeinsamen Währung mit unabsehbaren wirtschaftlichen Folgen.
Mehrere Gruppen von Klägern hatten in Karlsruhe Eilanträge gegen den permanenten Euro-Rettungsschirm und den europäischen Fiskalpakt für mehr Budgetdisziplin eingelegt. Unter den Beschwerdeführern sind der bayrische Christdemokrat Peter Gauweiler, die ehemalige deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) und die Fraktion der Linkspartei im Bundestag in Berlin. Außerdem haben sich rund deutsche 37.000 Bürger einer Beschwerde des Vereins "Mehr Demokratie" angeschlossen.
Die Richter wiesen am Mittwoch in Karlsruhe die Anträge der Kläger überwiegend zurück. Allerdings formulierte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle einen wesentlichen Vorbehalt: Die Ratifizierung könne erst dann abgeschlossen werden, wenn völkerrechtlich sichergestellt sei, dass die Haftungsgrenze Deutschlands von 190 Milliarden Euro nur mit Zustimmung des Bundestages geändert werden könne.
Im Rahmen des Schirms verpflichtet sich Europas größte Volkswirtschaft, notleidenden Euro-Staaten mit bis zu 190 Mrd. Euro beizustehen.
Der deutsche Aktienmarkt hat die Entscheidung der Verfassungsrichter goutiert: Der Deutsche Aktienindex (DAX) an der Deutschen Börse in Frankfurt am Main zog am Morgen um 0,98 Prozent an und notierte bei 7.382,06 Punkten. Die Aktienindizes der Börsen Madrid und Mailand gewannen jeweils 1,3 Prozent. Der Branchenindex der Banken aus der Euro-Zone gewann in der Spitze 2 Prozent und markierte mit 111,79 Zählern ein Fünf-Monats-Hoch.
Applaus im Europa-Parlament
Mit langanhaltendem Beifall haben die Abgeordneten des Europaparlaments auf die Genehmigung des Euro-Rettungsschirms durch das deutsche Bundesverfassungsgericht reagiert. Parlamentspräsident Martin Schulz (SPE) unterbrach am Mittwoch die laufende Debatte in Straßburg mit den Worten: "Das Bundesverfassungsgericht hat die Klagen abgelehnt, der Europäische Stabilitätsmechanismus ist zulässig". Daraufhin applaudierten die Parlamentarier 20 Sekunden lang.
Der grüne Fraktionsvorsitzende Daniel Cohn-Bendit rief in den Saal hinein: "Da haben wir ja schon eine erste gute Nachricht heute."
Merkel: "Starkes Signal nach Europa"
Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes. "Das ist ein guter Tag für Deutschland, und das ist ein guter Tag für Europa", sagte Merkel am Mittwoch im Bundestag in der Generaldebatte über die Haushaltspläne der schwarz-gelben Koalition. "Deutschland sendet heute einmal mehr ein starkes Signal nach Europa und darüber hinaus." Das Gericht habe den Weg für den ESM und den Fiskalpakt freigemacht und zugleich die Rechte des Parlaments bekräftigt. Dies gebe allen Sicherheit - im Bundestag, aber auch den deutschen Steuerzahlern.
Merkel bezeichnete Deutschland als Stabilitätsanker und Wachstumsmotor in der EU. "Deutschland geht es gut", die Bundesrepublik sei stärker aus der Finanzkrise herausgekommen, als sie hineingegangen sei. Solide Finanzen, Solidarität mit den Schwachen und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, um die Zukunft zu sichern, seien die Grundprinzipien ihrer Politik, sagte die Kanzlerin. "Das gilt sowohl für unser Vorgehen in Europa, als auch für unsere Politik hier zuhause." Deutschland werde es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gutgehe. Es seien erste Fortschritte bei der Bewältigung der Schuldenkrise erreicht worden.
"Maßgebliche Entscheidung"
Die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts wurde auch in Österreich mit Spannung verfolgt. Bundeskanzler Werner Faymann sieht im ergangenen Urteil "einen wichtigen Schritt für die Stabilität des Euro und wesentlich für die Zukunft Europas". Ein Kanzler-Sprecher verwies gegenüber der APA darauf, dass der Nationalrat ohnehin die Entscheidungsgewalt besitze, die das deutsche Verfassungsgericht nun dem Bundesrat zusprach: Eine Veränderung des Kapitalanteils Österreichs im ESM könne nur unter Mitwirkung des Parlaments erfolgen.
"Das Urteil ist keine Überraschung", schloss sich Außenminister Michael Spindelegger an. Er sei immer schon von der Verfassungskonformität ausgegangen, sowohl in Österreich als auch in Deutschland.
Als "bedauerlich" bzw. als "schwarzen Tag für Europa" haben FPÖ und BZÖ die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes über den Euro-Rettungsschirm ESM bezeichnet. FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache kündigte in einer Aussendung weiteren Widerstand gegen den ESM und den Fiskalpakt in Österreich an. BZÖ-Chef Josef Bucher bekräftigte die Forderung nach der Gründung einer Hartwährungszone.
Der Nationalrat hatte Anfang Juli dem ESM und dem Fiskalpakt zugestimmt. FPÖ, Grüne und BZÖ haben eine Klage gegen den Fiskalpakt angekündigt; die FPK will eine Verfassungsklage gegen ESM und Fiskalpakt über die Kärntner Landesregierung einbringen.
Anders als in Deutschland ist in Österreich eine Überprüfung von ESM und Fiskalpakt durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH) erst nach deren Inkrafttreten möglich. VfGH-Präsident Gerhart Holzinger hatte sich am Wochenende aber für eine Vorabprüfung bei Entscheidungen im EU-Kontext ausgesprochen. Die SPÖ unterstützt diesen Vorschlag, ebenso wie die Oppositionsparteien. Die ÖVP ist dagegen.