Wien. Das berühmteste Strichmännchen Europas hätte es wahrscheinlich mit einem Wutanfall kommentiert – aber das wäre bei La Linea ja nichts Außergewöhnliches: Beim Song Contest in Wien haben jedenfalls einige Cartoon-Kollegen zum Sieg des Schweden Mans Zelmerlöw beigetragen. Denn seine Bühnenshow zum Club-Popsong "Heroes" hob sich durch sympathisch-naive Zeichentrick-Action vom üblichen Song-Contest-Einerlei ab.
Denn eigentlich war die Eskalation ein Hauptthema bei diesem 60. Eurovision Song Contest in Wien. Aber weil es sich um eine friedliche Veranstaltung handelt – also zumindest so lang man beim Security-Check am Eingang seine Glitzerboa nicht abgeben muss – waren das ausschließlich musikalische Eskalationen. Viele Länder schickten Balladen, die säuselnd begannen, um dann umso gigantomanischer auszuarten. Russland, das am Ende am zweiten Platz landete, war mit dem Song "A Million Voices" so ein Fall, Griechenland mit dem programmatischen "One last breath" ebenso. Spanien setzte noch eins drauf: Sängerin Edurne mit Shakirastimme beherrschte nicht nur das überzogene Musical-Händeausstreck-Gestenpanorama, sie ließ sich auch für einen "Dancing Stars"-Moment von einem starken, nackten Oberkörper herumwirbeln. Nur der Französin hat man den heurigen Trend leider nicht verraten, sie seufzte sich ohne Höhepunkt durch ihr schnell vergessenes Lied. Irgendwas auf Französisch. Eine kecke Variante der Hineinsteigerungsballade wiederum lieferte die Serbin Bojana Stamenov: Ihr gnadenloser Ohrwurm mutierte in eine Euro-Trash-Dance-Nummer. Das Stadthallenpublikum liebte dieses pralle Party-Interludium. Wie auch die drei Italiener von "Il Volo", die als letzte für das finale Kitsch-Crescendo sorgten. Italien konnte sich aber schließlich nur den dritten Platz sichern, Serbien gar nur den 10.
Auffallend viele Partnerduette gab es bei dieser Wiener Song Contest-Show zu hören: Am besten die Esten – mit einer Nick-Cave-in-Zuckerwatte-Nummer. Litauen lieferte die klangliche Pastellvariante dazu, optisch orientierte man sich am Musical "Grease", allerdings in einer Reeperbahnversion. Das norwegische Paar sang von einem Monster, was bemerkenswert ist, denn der schwedische Nachbar und spätere Sieger sang von Dämonen. Sein Sieg mit "Heroes" war aber auch ein Sieg für die Bühnenshow, die der ORF für dieses Megaevent auf die Beine gestellt hat. Beeindruckend war auch die Kugelinstallation, die vor der Bühne von der Decke in verschiedene Formen tanzte. Ab und zu mischte sich unter die modernen Projektionen aber auch charmanter Retro-Trash à la "Wetten dass..." (einstürzende Antik-Torsi bei Italien!) – Song-Contest-Nostalgiker würdigen so etwas.
Die Eröffnung, die ja eine Showbusiness-taugliche Visitenkarte des austragenden Landes (Tourismus!) sein soll, war ausgewogen: Ein gutes Stück Rührseligkeit (Udo! Kinderchor!), ein fetter Anteil Bombast-Action (fliegende Conchita!), eine Prise Philharmoniker-Seriosität.
Für die Pausenshow Star-Perkussionist Martin Grubinger zu engagieren, war eine ambitionierte Idee, die sich ausgezahlt hat: Man hat schon Peinlicheres in der Wartezeit zum Ergebnis gesehen. Die Postkartenclips, die die Contestanten der Österreich-Eigenwerbung einverleibten, fielen charmant aus (mit "subtilem" Humor, etwa als die russische Sängerin ausgerechnet zu Swarowski geladen wurde). Das Moderatorenteam überstrahlte Alice Tumler, ein souveräner, polyglotter Fels in der Brandung, Arabella Kiesbauer war von authentischer Lockerheit, nur Mirjam Weichselbraun dürfte es sich mit dem Gagschreiber verscherzt haben, da hatte sie die Niete abonniert. Apropos Niete: Bitter das Abschneiden der Makemakes, die es Conchita Wurst auf der anderen Seite der Skala gleichmachten: Sie wurden Letzte, mit 0 Punkten.
Natürlich fehlten auch heuer Song Contest-Fixpunkte nicht. Die Windmaschine, das Kleider-vom-Leib-Reißen, das Sehnsuchtsvoll-die-Arme-Ausstrecken. Leider gab es in diesem Jahr aber wenig Titel, die so bizarr sind, wie man es sich für einen Song Contest erwartet. Da war zwar Lettland mit einer extensionschweren Sängerin, die sich wünschte Björk zu sein, aber doch nur den ein oder anderen dazu brachte, zu schauen, ob das die eigene Autoalarmanlage da draußen ist. Und da gab es den zypriotischen Beitragsunfall: Ein großbebrillter Jüngling, der etwas sang, was man wohl in der Wartezeit beim Hipster-Barbier komponiert. Man wollte ihm eine Bionade in die Hand drücken und ihn tröstend von der Bühne geleiten. Aserbaidschan hatte die seltsamste Tanzeinlage: Die Tänzer hatten wohl genau kurz bevor die Bodennebelmaschine eingeschaltet wurde, etwas am Boden verloren. Die belgischen Backgroundtänzer wiederum bekamen offenbar mittendrin Rückenschmerzen und legten sich zur Physiotherapie hin.
Der flotte Beitrag von Ehrengast Australien (Platz 5) zeigte ein bisschen die neue Entwicklung des Song Contests: Er war verdammt professionell. Vielleicht sogar ein bisschen zu professionell. Denn der Reiz am ESC ist die Freude am Unperfekten. Vielleicht wird der Eurovision Song Contest erwachsener. Er muss nur aufpassen, dass er nicht fad wird.
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"Maschinengewehrbaum, Nick Cave in Zuckerwatte, Männerbroschen, Migräne und LSD für alle"....Die Wiener Zeitung berichtete live vom Song Contest.
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