Kiew. Das EM-Finale am Sonntag (20.45 Uhr) in Kiew zwischen Spanien und Italien ist ein Duell zweier Länder von den Ufern des Mittelmeeres, europäisch gesehen vom Südgipfel. Das Spiel bietet auch Raum für allerhand billige politisch-wirtschaftliche Zuschreibungen, vor allem aber ist es ein Duell zweier Fußballwelten. Beide Länder beherbergen große Fußballkulturen, die in den vergangenen Jahren aber in entgegengesetzte Richtungen unterwegs waren.

Der Abgesang auf die italienische Form des Spiels, den Calcio, ist fast schon wieder verklungen, Italiens große Fußballzeit liegt nach einhellig europäischer Meinung in der Vergangenheit. Daran wird auch der Einzug ins EM-Finale so schnell nichts ändern, zumal die Squadra Azzurra weder mit Jungstars gespickt noch mit Weltstars gesegnet ist. Die Lobeshymnen auf die spanische Art von Fußball, die mit Tiqui-Taca nur unzureichend beschrieben wird, können angesichts der Dominanz sowohl auf Klub- als auch Nationalteamebene fast nicht laut genug sein.

Der Blick auf die Fakten belegt die widersprüchliche Entwicklung, die diese beiden Fußballwelten in den vergangenen Jahren durchgemacht haben. Spanien ist regierender Welt- und Europameister, Italien ist das letzte Land, das mit dem WM-Titel 2006 vor den Spaniern einen großen Titel gewinnen konnte. Dieser Triumph galt gemeinhin als vorerst letzter großer Sieg des Calcios. Im Nachwuchsbereich ist es nicht anders. Während Spanien dort in den vergangenen Jahren emsig Titel sammelte (sechs seit 2006), wartet Italien seit dem U21-EM-Titel von 2004 auf einen Turniersieg im Nachwuchs.

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Spanien dominiert die europäischen Bewerbe

Auf Klubebene ist die Bilanz ähnlich. In den vergangenen sieben Jahren gewann im FC Barcelona dreimal eine spanische Mannschaft die Champions League, zweimal kam der Sieger aus Italien. Eklatant ist der Unterschied im zweiten Klubbewerb, der Europa League respektive dem Vorgängerbewerb Uefa-Cup. Den gewann in Parma zuletzt 1999 eine italienische Mannschaft, seither holte fünfmal ein spanisches Team den Pokal. In der abgelaufenen Saison standen gleich drei spanische Mannschaften im Halbfinale, der letzte italienische Vertreter verabschiedete sich dagegen im Achtelfinale. Ein ähnliches Bild gab es in der Champions League. Da standen Barcelona und Real Madrid im Halbfinale, Milan, der letzte italienische Verein schied schon im Viertelfinale aus.

Viele Probleme im italienischen Liga-Fußball

Die Italiener haben mittlerweile damit zu leben gelernt, dass sich ihre Serie A längst von der Stellung als stärkste Liga der Welt verabschieden musste. Schwerer wiegen andere Probleme im italienischen Fußball. Wie schon vor dem Weltmeistertitel 2006 wurde die Vorbereitung der Nationalmannschaft auf ein großes Turnier von einem weitläufigen Manipulationsskandal beeinträchtigt. Beim Versuch, die Gewalt aus den italienischen Stadien zu verbannen, scheiterte die italienische Politik bisher mit ihren Mitteln, nicht zuletzt deshalb sind die Zuschauerzahlen in der Serie A seit Jahren rückläufig. Dass die meisten Stadien veraltet und ungemütlich sind, hilft da nicht wirklich.

Wirklich neu mag der Großteil der spanischen Stadien zwar auch nicht sein, doch die nahezu komplette Abwesenheit von Gewalt und die Ansammlung von nicht nur spanischen Weltstars lockt die Zuschauer konstant in die Stadien. So gingen diese beiden Fußballwelten mit gänzlich konträren Zielen in die diesjährige Europameisterschaft. Der italienische Teamchef Cesare Prandelli war nach dem blamablen Vorrunden-Aus bei der WM 2010 angetreten, um dem italienischen Fußball seine Glaubwürdigkeit zurückzugeben. Dazu hätte es den Finaleinzug vermutlich gar nicht einmal gebraucht. Nach der beeindruckenden Vorstellung beim 1:1 in der Gruppenphase gegen Spanien hätte die italienische Öffentlichkeit wohl auch mit einem Aus gegen Deutschland leben können, vielleicht sogar mit einer unglücklichen Niederlage gegen England im Elfmeterschießen im Viertelfinale.

Für Spanien geht es dagegen offenbar nicht mehr nur um den Titelgewinn. Ein Einzug ins Endspiel alleine reicht nicht mehr. In den vergangenen Tagen mussten sich die Spanier trotz der Überlegenheit gegen alle bisherigen Gegner Kritik an ihrem Spielstil anhören.

"Früher haben wir das ganze Leben einen Stil gesucht"

Der Stil, der den Fußball der letzten Jahre geprägt hat und aufgrund seiner Passsicherheit viele Gegner in Respekt erstarren lässt, will weiterentwickelt werden. "Wir hoffen, Fortschritte zu machen und unserem Land zu erlauben, in der Elite des Weltfußballs zu bleiben. Das wäre das beste Zeichen. Wir sprechen über eine gute Zeit für unseren Fußball. Früher haben wir unser ganzes Leben damit verbracht, einen Stil zu suchen", erklärt Spaniens Teamchef Vicente Del Bosque.

Dieser Stil beeinflusst ausgehend vom FC Barcelona mittlerweile den gesamten Fußball - also auch jene Welt, auf die Spanien am Sonntag trifft. Dort kombinierte Prandelli italienische Defensivkunst mit dem Mut zur Offensive. Denn, so der Teamchef, "wer das nicht kann, wird die Turniere demnächst zu Hause vor dem Fernseher erleben". Wer dagegen anpassungsfähig genug ist, kann gegen alle Erwartungen ins EM-Finale einziehen - und ganze Fußballwelten reformieren.