Am Anfang ist immer Blut im Rotz. Das ist normal. So reagiert der Körper. Zumal er österreichische Sauerstoffverhältnisse gewohnt ist. Es ist ein klassischer Fall von West-Ost-Konfrontation: Trifft westliche Nase auf Teheraner Smogglocke, ist das Blutbad im Taschentuch gewiss. Das geht vorbei, wird mir versichert. Das Blut im Rotz ist ein guter Indikator für den Grad der Assimilation. Je weniger Blut im Taschentuch, desto mehr Iran im Blut.
Fünf Monate Iran also. Das klingt faszinierend. Nach Berberitzenreis, 1001 Nacht, operierten Nasen, finsteren Mullahs und einer Jeunesse Dorée, die ihnen den Mittelfinger zeigt. Für Fremde ist der Iran eine exotische Peepshow. Damit können sie vor Freunden angeben. Sich als Draufgänger inszenieren, die sich in einen Gottesstaat gewagt haben.
Immer und immer wieder werden sie dieselben Anekdoten von dem 80-Millionen-Land erzählen: von den schönen, überraschend gebildeten und selbstbewussten Frauen, von dem guten Essen, der Gastfreundschaft, der atemberaubenden Natur, den melancholischen Intellektuellen, der einen Heavy Metal- Band, die im Untergrund spielt, und den legendären Partys, auf denen man sich bei selbstgebranntem Rosinenschnaps von einer Domina ihren Arbeitsalltag erklären lässt. So faszinierend. So spannend. So unerwartet.
Der Testlauf
Nicht für mich. Für mich ist es ein Testlauf. Als Journalistin. Als Europäerin. Als Tochter von zwei Exiliranern, die vor 32 Jahren aus politischen Gründen das Land verlassen mussten. Kann ich in dem Land, aus dem meine Eltern geflohen sind, leben?
Nein, sagen die Eltern. Nein, die Freunde. Nein, die Iraner. "Du wirst dich nie daran gewöhnen können." Mit "daran" meinen sie den Staat, der seit 37 Jahren Islamische Republik heißt. Sie meinen die Religion, die sich auf meinem Körper, auf meinem Teller, in meinem Schlafzimmer abspielen wird. Sie meinen die Paranoia, die mich als Journalistin und als Tochter zweier Dissidenten immer begleiten wird. Sie meinen die Tradition, die von Ausländern als Folklore gefeiert wird, während sie für mich nur primitiven Chauvinismus ausdrückt. Sie meinen die präpotenten Onkel, die jedes Problem mit Geld lösen wollen, die neugierigen Tanten, die sich in alles einmischen, die frustrierten Cousins, die keinen Sex haben, und die ruhigen Cousinen, die bei jedem vorbeifahrenden Motorrad zusammenzucken, weil sie das Rattern an die Nacht erinnert, als vor ein paar Jahren die Basij-Milizen, die Schergen des Regimes, durch die Straßen zogen und jeden Andersdenkenden krankenhausreif geprügelt haben.
"Du wirst dich nie daran gewöhnen." Dieser Satz dröhnt fünf Monate lang in meinem Kopf.
Der Blick
Anpassung ist eine Frage der Einstellung. Entweder man will oder man will nicht. Nicht im Iran. In einer Theokratie stellt sich diese Frage nicht. Anpassung passiert hier. Ob man will oder nicht. "Wenn du nicht verderben willst, nimm die Farbe der Gesellschaft an." So lautet ein iranisches Sprichwort. Oft wird es zitiert. Mal als Tatsache, mal als eindringlicher Appell. Nimm gefälligst die Farbe der Gesellschaft an. Nur wer nicht auffällt, überlebt hier.
Der Körper übernimmt dabei das Kommando. Der blutige Rotz ist nur der Anfang. Danach folgt der Blick. Das eigene Sehfeld beginnt sich zu verändern. Vor allem in der Öffentlichkeit. Plötzlich gibt es kein Links und kein Rechts mehr, sondern nur noch ein starres nach vorne. Im öffentlichen Raum ist der Tunnelblick unablässig. Er schützt. Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Sei das der masturbierende Mann an der Straßenecke vor dem Bazar, die strenge Sittenwächterin vor der Einkaufspassage, die das verrutschte Kopftuch im Visier hat, oder das verdreckte Straßenkind, das ein paar Verse des Nationaldichters Hafez verkaufen möchte.

Stelle ich Augenkontakt her, verfolgt mich der Mann, nimmt mich die Frau auf das Revier mit und beschämt mich das Kind für meine Dekadenz. So ist alles gut. Alles im toten Winkel. Das Leben ist schön.
Der Gang
Der Gang ist schneller als sonst. Es könnte daran liegen, dass man in Teheran lebt, wo man mit 14 Millionen anderen versucht Schritt zu halten. Klassisches Großstadtgetümmel halt. Es könnte aber auch daran liegen, dass man als Frau geht, als Frau, die alleine unterwegs ist. Eigentlich keine große Sache. Millionen Iranerinnen rempeln sich alleine durch die Straßen, durch die Stadt, durch das Land, das sie zu Bürgern zweiter Klasse erklärt.
Genau genommen sind sie halbe Bürger. Sagt eine Frau vor Gericht aus, zählt ihre Aussage nur halb so viel, wie die eines Mannes. Wird eine Frau bei einem Unfall verletzt, bekommt sie nur halb so viel Schadensersatz wie ein verletzter Mann. War die Frau bei besagtem Unfall mit einem Buben schwanger, dann steht ihr nur halb so viel Geld zu wie dem männlichen Fötus in ihrer Gebärmutter.
"Alles für uns ist ein Kampf. Das ist der Iran, gewöhn dich daran", sagen die Iranerinnen und lachen. Es klingt bitter. Sie haben sich an das Level der Misogynie gewöhnt. Es setzt so tief an, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als jede Kleinigkeit als Kampf zu betrachten.