Doch Big Data wird nicht nur eine Frage von Geschäftsfällen: Der Datenschutz muss neu justiert werden. Und Angeboten, die als unsittlich erlebt werden, droht ziviler Widerstand: Für medizinische Forschung, ergab eine Umfrage des Handelsblatt Research Institute, würden drei Viertel ihre Einsen und Nullen hergeben, für Stauvermeidung immerhin jeder Zweite, für personalisierte Kaufempfehlungen (vulgo Reklame), das naheliegendste Geschäftsfeld, nur noch jeder Zehnte.
Bei manchen Business-Visionen versteht man auf Anhieb, warum grimmige Theorien über digitalen Totalitarismus Konjunktur haben. In einem nicht untypischen Big-Data-Werbefilmchen ist eine glückliche junge Frau vor einem Spieglein an der Wand zu sehen. Sie probiert einen Mantel. Der Spiegel schaut aber nicht nur zu. In Echtzeit überträgt er die Bilder von der Kleiderprobe in soziale Netze. Die Freundinnen, sie haben immer Zeit, kommentieren live. Vom positiven Feedback sichtlich enthusiasmiert, tätigt die Dame überglücklich den Kauf - ihr Handy, tief mit dem Geschäft verbunden, bezahlt selbsttätig. Ein automatisch gewährter Rabatt markiert das Happy End dieser "customer journey".
Hans-Christian Dany mutmaßt in seinem Essay "Morgen werde ich Idiot", dass die Kybernetik und der Mensch eins werden, wo sie es noch nicht geworden sind. Alles regelt sich wie von selbst, weil alle einander gegenseitig kontrollieren. Wir bewerten einander permanent selbst - auf Facebook, bei Amazon, bei Tripadvisor, praktisch überall im Netz. Ein alter Traum des Kybernetikers Heinz von Foerster wird wahr: der permanent beobachtete Beobachter. So ein Wesen kennt keinen blinden Fleck mehr. Jeder überwacht jeden, es kommt einem normal vor.
Die NSA wäre dann nichts anderes als der oberste Bewerter. Auch dafür gibt es ein altes Wort: Gott. Gar nicht so wenige glauben an das "wachsame und allsehende Auge auf die Welt", schreibt der Chaos-Computerclub-Sprecher Frank Rieger in der "FAZ". Und fühlen sich eigentlich wohl unter der immerwährenden Observanz.
Doch sie unterliegen einem Fehlschluss, der laut dem US-Publizisten Evgeny Morozov zentral ist für das Big-Data-Heilsversprechen: Alle Probleme, die noch nicht gelöst sind, beruhen angeblich auf unvollständiger Information. Meistens läuft die Lösung auf einen neuen Dienst, ein neues Gadget, eine neue App hinaus statt auf eine politische oder ökonomische Debatte. "Solutionismus" nennt er diese Haltung. Was Fortschritt ist, ergibt sich aus den Businessplänen der mächtigen Internet-Konzerne.
Die Big-Data-Gewinner, meinen manche Experten, werden aber auf lange Sicht jene sein, die auch Open Data betreiben. Und Datensicherheit, Kundennutzen, Transparenz und Verhältnismäßigkeit nach dem Motto gewährleisten: Meine Daten gehören mir, wer sie nutzen will, muss mit mir verhandeln. Das bekommen langsam auch die großen Internet-Konzerne zu spüren, deren Geschäftsmodell nicht so weit weg ist von jenem der viel geschmähten NSA: Sie bieten Bequemlichkeit, Spaß und Virenschutz, verlangen aber im Gegenzug, dass man sich ihrer mitunter eigenartigen Rechtsauffassung unterwirft und Abgaben in Form von Daten erbringt, über die sie dann nach Belieben verfügen.
Potenziell würde auch sie eine UN-Konvention der digitalen Rechte betreffen, wie sie protestierende Schriftsteller fordern. Wenn Algorithmen mehr Macht bekommen, müssen mehr Möglichkeiten verfügbar sein, um an ihnen zu zweifeln. Denn nichts ist schwerer, als gegen eine Information anzukämpfen, die auf einem Display steht.
Die Polizisten vor meiner Tür waren sich ihrer Sache sicher. Nach einer vergeblichen Runde durch Küche und Wohnzimmer zeigte die nächste Ortung jedoch, dass sich das gestohlene Handy zehn Kilometer weit fort begeben hatte.