Das "Time Magazine" hat ihn schon im ersten Jahr seines Pontifikates, dem seit langem turbulentesten Jahr der Kirchengeschichte, zum "Mann des Jahres" gewählt, sicher mit mehr Berechtigung als jener, mit der seinerzeit Barack Obama gleich im ersten Präsidentschaftsjahr den Friedensnobelpreis erhalten hat. Mit dem neuen Papst Franziskus stehen der römisch-katholischen Kirche voraussichtlich weitere aufregende Jahre bevor, vielleicht ein ähnlicher Umbruch, wie ihn Papst Johannes XXIII. durch die Einberufung des II. Vatikanischen Konzils eingeleitet hat.

Der Sprung, zu dem die Kirche damals ansetzte, wurde freilich, wie der emeritierte Wiener Weihbischof Helmut Krätzl in seinem Buch mit dem treffenden Titel "Im Sprung gehemmt" feststellte, durch die spätere Entwicklung gestoppt. Aber Franziskus hat allem Anschein nach bereits Anlauf zu einem neuen, eventuell noch weiteren Sprung genommen.
Dass man sich zum Jahreswechsel 2013/2014 die Frage stellen würde, ob in der römisch-katholischen Kirche gerade eine Revolution stattfindet, hat vor einem Jahr niemand erwartet. Aber seit am 11. Februar 2013 im wörtlichen und im übertragenen Sinn der Blitz in den Vatikan eingeschlagen hat, als Papst Benedikt XVI. seinen Rücktritt ankündigte, überschlagen sich in der römischen Kirchenzentrale die Ereignisse. Erste Konsequenz: Das mit ganz wenigen weit zurückliegenden Ausnahmen immer bis zum Tod ausgeübte Petrusamt bekommt ein anderes Gesicht - wie jeder andere Bischof kann sich nun auch der von Rom in den Ruhestand zurückziehen.

Der Mann, der dann nach einem kurzen Konklave am 13. März mit einem schlichten "Buona sera" (Guten Abend) anstatt des erwarteten "Gelobt sei Jesus Christus" auf die Mittelloggia des Petersdoms in Rom tritt, verkörpert mit seinen 76 Jahren nicht gerade die Jugend. Er bringt aber als erster Lateinamerikaner, erster Jesuit und Erster mit dem Papstnamen Franziskus sofort frischen Wind in die 2000 Jahre alte Institution Kirche.
Außer dem weißen Papstgewand trägt Jorge Mario Bergoglio, Argentinier mit italienischen Wurzeln, keine besonderen Insignien seines neuen Amtes. Der bisherige Erzbischof von Buenos Aires bezieht auch nicht die päpstlichen Gemächer im Apostolischen Palast, sondern bleibt im vatikanischen Gästehaus Santa Marta, setzt sich zu den Mahlzeiten mit den wechselnden dortigen Bewohnern zusammen und verhält sich wie jene Bischöfe, die sich in einem 1965 am Rande des Konzils geschlossenen "Katakombenpakt" zu einem einfachen Leben verpflichtet haben.
Die Anrede "Heiliger Vater" erwidert er mit "Heiliger Sohn". "Eine arme Kirche für die Armen" formuliert er als sein Ziel, er sorgt sofort für eine Verdopplung der vom Vatikan an Bedürftige verteilten Almosen. Am Gründonnerstag wäscht er jugendlichen Strafgefangenen unterschiedlichen Glaubens in einem römischen Jugendgefängnis die Füße. Wenn damit nicht schon eine Revolution begonnen hat!
Sein erster größerer Ausflug aus dem Vatikan führt ihn auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa, seine erste Auslandsreise zum Weltjugendtreffen nach Brasilien, wo sein weißer Fiat das kleinste Auto im Fahrzeugkonvoi ist. Er küsst nicht den Boden, aber er setzt andere Zeichen, die berühren.
Mit seinem spontanen Zugehen auf Menschen aus allen Lagern und Gruppen erweist sich Franziskus als echter Pontifex, als Brückenbauer. Er empfängt die Mächtigen der Welt und besucht die Bedürftigen. Er redet den einen ins Gewissen - das er gegenüber dem Atheisten Eugenio Scalfari als die wichtigste Richtschnur bezeichnet hat - und versucht den anderen Mut zu machen.
Der neue Papst war und ist auch sichtlich um Brückenschläge zu anderen Konfessionen und Religionen bemüht. Dazu gehört das für das Frühjahr 2014 geplante Treffen mit Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel in Jerusalem, wo 50 Jahre zuvor die historische Begegnung der beiden Vorgänger, Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras, die Versöhnung der römischen und der orthodoxen Kirche eingeleitet hat. Das Verhältnis zu den Protestanten kann unter Franziskus fast nur besser werden als unter seinem Vorgänger. Auch mit bedeutenden Vertretern des Judentums und des Islams hat er eine gute Gesprächsbasis, wobei er nicht müde wird, kritisch auf die Verfolgung von Christen in islamischen Ländern hinzuweisen.
Manche mögen meinen, Franziskus habe in seinem ersten Pontifikatsjahr zwar viele stimmige Aussagen gemacht und Gesten gesetzt, aber noch nichts Gravierendes an der Organisation Kirche und ihren - vielen antiquiert erscheinenden - Lehren geändert. Daran ist richtig, dass er von Reformern abgelehnte traditionelle kirchliche Positionen, etwa zum Zölibat oder zur Möglichkeit einer Priesterweihe von Frauen, nicht angetastet, in seiner Wortwahl freilich die künftige Entwicklung offener gelassen hat als seine Vorgänger. Doch er hat in wenigen Monaten wahrscheinlich mehr neue Weichen in die Zukunft gestellt als seine Vorgänger in Jahrzehnten, aber auch als die meisten politischen Regierungen, deren Programme sich oft in starken Ankündigungen und Worthülsen erschöpfen und jahrelang keine wesentlichen Neuerungen bringen.