Im Januar 2013 hatte ich eine Einladung von der Nehru Universität in New Delhi erhalten und dort im Oktober eine Gastprofessur dort absolviert. Mein Lehrprogramm lautete: Literarische Moderne, und das erwies sich für die 30 Studierenden, die ich unterrichtete, als erstaunlich aktuell. Denn Aufklärung und Romantik, mit der die Moderne in Europa beginnt, hatten ähnliche Probleme zu bewältigen wie das heutige Indien immer noch: die Überwindung der Klassen- (in Indien Kasten)-Hierarchie, die Gleichstellung von Mann und Frau und deren Eigenrechte in der Wahl des Ehepartners.

Die Studenten höheren Semesters sprachen gut Deutsch und beteiligten sich lebhaft an den Debatten. Der inmitten von Delhi in einem urwaldähnlichen Gelände liegende Campus hatte eine ähnliche Funktion wie der romantische Salon der Rahel Varnhagen vor 200 Jahren in Berlin: relativ herrschaftsfreie Kommunikation bei Gleichstellung der Geschlechter, damals wie heute Utopie einer zukünftigen Gesellschaft.
Ich lernte aber bald, dass der Campus eine Insel ist. Die meisten Studenten kamen aus Provinzen wie Bihar, Rajasthan - und dort ticken die Uhren anders. Meine beste Deutschstudentin, Dipti, stammt aus einer unteren Kaste, gehörte nun also zwei Systemen an: beste Leistungsklasse Deutsch bei niederer indischer Kaste. "Und wie werden Sie heiraten?", frage ich sie zusammen mit ihrer Freundin bei Tee nach dem Seminar. Die Inder haben eine wunderbar vielseitige Bewegung des Kopfes, um Ja oder Nein zu sagen. Der Kopf dreht sich dabei wie in einer Unendlichkeitsschleife um seine Aufhängung auf der Halswirbelsäule. Und beide Mädchen schaukeln bei meiner Frage nun ihren Kopf schwingend in solchen Nachdenklichkeitsschleifen hin und her. Offene Antwort.

Vielfach heiraten dieselben Studierenden, die an der Universität den aufklärerischen Imperativ des Philosophen Kant lernen, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen und die die eigenwilligen romantischen Liebesabenteuer einer Caroline Schlegel-Schelling studieren, in den konservativen Kreisen ihrer Heimat durchaus wieder im Rahmen der Tradition und ihrer Kaste.
Inder sind Meister der Integration von Gegensätzen. Ihre Lehre der Identität lautet anders als in Europa. Dort gilt A ist gleich A und ist ungleich Non-A. Indien hat eine andere Logik. Nehmen wir die Autobahn. Ich fahre mit dem Taxi auf der Autobahn nach Agra, wo der zauberhafte Taj Mahal steht, den der Mogulherrscher Shah Jahan seiner verstorbenen Lieblingsfrau 1631 als Grabpalast erbauen ließ. Und ich fahre mit dem Taxi - in Indien ist das bezahlbar - die 270 Kilometer von Delhi in die für den Thronfolger von England einmal so bemalte "rote Stadt" Jaipur. Das dauert sieben Stunden.
Die Autobahn ist eben nicht nur Autobahn, sondern auch Fußgänger-, Fahrrad- und Rikscha-Weg. Und: Auf dem Mittelstreifen grasen Kühe, Ziegen, Esel. Die Autobahn also auch: eine Viehweide. Dann liegen da auch schlafende Hunde am Straßenrand: die Autobahn als Hundeschlafplatz. Bei der Durchfahrt durch Städte ragen die Verkaufsstände auf die Straße. Autobahn in Indien auch streckenweise: ein Basar. Der Verkehr läuft auf je zwei Spuren in die eine wie andere Richtung, aber in jede zugleich auch gegenläufig. "Geisterfahrer" würden wir das nennen. In Indien normal. Etwas ist etwas und zugleich auch sein Gegenteil. Ich war froh, gefahren zu werden und mich nicht selbst durchschlängeln zu müssen.
Die Logik der Ambivalenzen greift noch tiefer. In der Philosophiegeschichte Indiens von Radhakrishnan lese ich über das Samkhya-System: "The world is neither real nor unreal." Europäische Philosophie dagegen beginnt mit dem Satz des Parmenides, dass man nur das Sein denken kann und nicht das Nicht-Sein. Dass Sein und Nicht-Sein gleich sein könnten in ihrer unbestimmten Realität, ist für europäische Philosophie denkunmöglich. Aber es waren die Inder, die auf ihre Weise eine wichtige "Nichtigkeit" erfunden haben, die Zahl 0.
Ich habe auf dem Campus und meinen Reisen viele Inder getroffen, die sich einen Modernisierungsschub für ihr Land wünschen, rationale Infrastruktur, politische Transparenz und weniger Korruption. Eine Rechtsprofessorin frage ich in Goa: "Brauchen Sie mehr Gesetze gegen Korruption oder geht es primär um die Durchsetzung?" - "Eindeutig Letzteres", antwortet sie. "Rechtsbrüche werden oft nicht oder viel zu spät verfolgt, und meistens spielt dabei auch Geld eine entscheidende Rolle." - "Bestechung auch der Polizei und der Justiz?" - "Leider ja."
2014 stehen Parlamentswahlen in Indien an. Der Herausforderer der regierenden Kongresspartei und ihres einfallslosen Repräsentanten Rahul Ghandi heißt Narendra Modi von der konservativen BJP. Er versteht es hervorragend, die Medien für sich zu nutzen, und profitiert von der Müdigkeit vieler Inder mit der jahrzehntelang regierenden Kongresspartei und ihrem Familienclan Nehru-Gandhi; dieser trägt nur noch den Namen, nicht die Aura der großen Führer in Indiens Unabhängigkeit. Andere fürchten bei der Wahl Modis einen Rechtsruck und erneute Religionskonflikte in einem Riesenstaat, der viele verschiedene Ethnien, Religionen und über 1500 Dialekte unter einen Hut bringen muss und dabei immer wieder vor allem durch Religionskonflikte zwischen Hindus und Moslems gebeutelt wird. Es gibt - nach dem islamistischen Terroranschlag vom November 2008 in Mumbai - heute keine Bahnhof- oder Metrostation, die nicht durch Schwerbewaffnete gesichert und kontrolliert wird.