Eines Abends klopfte der Fortschritt wieder einmal an meine Tür. Draußen standen vier Polizisten. Sie hatten ein gestohlenes Handy in meinem Haus geortet und begehrten Einlass. Das Smartphone-Display, auf das einer von ihnen schaute, sprach gegen mich.

Auf seinem Weg durch den Tag legt der Mensch viele Spuren. Millionen abgestorbener Hautzellen rieseln an ihm herunter, so viele, dass eine eigene Gattung, die Hausstaubmilbe, sich davon ernähren kann. Und seit Neuestem verstreut der Mensch auch Myriaden an Einsen und Nullen. Von diesen winzigen Bausteinen der digitalen Welt und der eichhörnchenartigen Sammelwut, mit der sie zusammengetragen werden, leben bereits ganze Industrien.
Die Geräte, die wir am Körper tragen, sind Sonden, tief im Alltag platziert. Ein normales Smartphone misst Lichtstärke, Schall- und Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und das Erdmagnetfeld noch dazu. Es weiß auf ein paar Meter genau, wo es sich befindet. Es misst nicht nur, es schaut auch zu, hört mit, fotografiert, filmt und erkennt die Gesten seines Besitzers. Der Besitzer lagert sein Leben darin ab: Bilder seiner Lieben, Proben seines Musikgeschmacks. Und die Facebook-Freunde sind sowieso immer dabei. Wer Handys stiehlt, stiehlt Erinnerungen.
James Joyce wollte einst mit seinem Roman "Ulysses" ein Abbild von Dublin erschaffen, so vollständig, dass die Stadt aus dem Buch heraus "vollständig wieder aufgebaut werden könnte". Heute würde ein Smartphone genügen, um das Wesen seines Besitzers auferstehen zu lassen. Man müsste nur seine Daten durchmustern und wüsste ziemlich genau, welche Rolle er gespielt hat. Der Microsoft-Ingenieur Gordon Bell hat das sogar explizit getan, seine "LifeBits" ein Leben lang bewusst gespeichert und ein Buch darüber geschrieben: "Your Life, Uploaded".
Das auf den ersten Blick nutzlose, fragmentierte, zerstreute Weltwissen wächst und wächst. Bis 2020, sagen kundige Marktbeobachter, werden in den globalen Datenspeichern 40 Zettabytes lagern. Ein Zettabyte wird angeschrieben als 1, gefolgt von 21 Nullen. Man könnte, um eine Vorstellung vom Gewicht dieser Zahl zu bekommen, im Geiste eine richtig hohe Mauer aus iPhones um den Äquator bauen. Es gibt für diese Datenmenge aber auch charmantere Übersetzungen ins Menschliche: 40 Zettabytes, das sind 57 Mal alle Sandkörner aller Strände aller Kontinente. Und da sind auch solche dabei, wo nur Pinguine baden.
Lange war die IT-Maschinerie dem Angebot nicht gewachsen. Doch mittlerweile versteht sie sich auf Big Data: Riesige Arbeitsspeicher schlucken in Echtzeit ganze Informationshalden, ähnlich wie Wale Plankton. Intensive Abfragesprachen und verteilte Algorithmen erkennen, wie was wo zusammenhängt. Typische Beispiele dafür: Aus Google-Anfragen lassen sich Epidemien vorhersagen, ehe die Leute massenhaft im Bett landen. Rasante Statistik-Algorithmen, die abertausende Texte werten und gewichten, ersetzen (fast) den Übersetzer. Der Cambridge-Philosophieprofessor Michael Kosinski fand heraus, dass man aus Facebook-Likes ethnische Zugehörigkeit, Intelligenz und sexuelle Orientierung herausfiltern kann. Und mit einer guten Erfolgschance lässt sich aus ebendiesen Klicks auch ableiten, ob jemand Drogen nimmt.
In Echtzeit entstehen plausible Erkenntnisse, wo vorher nur Rauschen war. Es ist eine neue Art von Magie, wenn Technik plötzlich in die Zukunft schaut wie die Pythia im antiken Delphi oder Gedanken, Gefühle und Einstellungen wahrnimmt wie ein allsehendes Auge. Das ist nicht bloß ein Schritt vorwärts. Eine neue Welt mit neuen Verdienstmöglichkeiten und neuen Verhaltensweisen entsteht.
Big Data klopft an jede Tür. In Österreich sammeln die großen Handelsketten, Versicherungen und Telekommunikationsunternehmen längst eifrig Daten und münzen sie in Verkaufsstrategien um. Doch auch die kleinen und mittleren Unternehmen können ihr magisches Potenzial nicht länger ignorieren: Welchen Wettbewerbsvorteil hätte man, könnten Algorithmen aus Echtzeit-Daten jenen Moment knapp vor dem Produktionsausfall bestimmen, in dem Maschinen neue Ersatzteile brauchen? Was wäre, wenn man die Wirkung von Marketing-Kampagnen zuverlässig aufschlüsseln könnte? Und welche Geschäftsideen stecken in den Daten?
Während sich die große Geschäftswelt mit Big Data schon recht wohlfühlt, macht die kleine und mittlere Wirtschaft erste Gehversuche damit. Sie läuft entlang von V-Wörtern wie Velocity, Variety, Volume: Daten müssen blitzschnell verarbeitet werden, sie können sehr unterschiedlich sein, und es kann sehr viel davon geben.
Das auf Informationstechnologie spezialisierte Marktforschungsinstitut IDC erstellt 2014 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie eine große Studie über Big Data in Österreich: Technik, Geschäftsfälle, Infrastruktur, alles, was man braucht, soll bestimmt werden, um Projekte in Österreich erfolgreich umsetzen zu können. Davon unabhängig wären auch die einschlägigen Fachhochschulen bereit, im Rahmen von Forschungsprojekten auf Fragen kleiner und mittlerer Unternehmen einzugehen.
Doch Big Data wird nicht nur eine Frage von Geschäftsfällen: Der Datenschutz muss neu justiert werden. Und Angeboten, die als unsittlich erlebt werden, droht ziviler Widerstand: Für medizinische Forschung, ergab eine Umfrage des Handelsblatt Research Institute, würden drei Viertel ihre Einsen und Nullen hergeben, für Stauvermeidung immerhin jeder Zweite, für personalisierte Kaufempfehlungen (vulgo Reklame), das naheliegendste Geschäftsfeld, nur noch jeder Zehnte.
Bei manchen Business-Visionen versteht man auf Anhieb, warum grimmige Theorien über digitalen Totalitarismus Konjunktur haben. In einem nicht untypischen Big-Data-Werbefilmchen ist eine glückliche junge Frau vor einem Spieglein an der Wand zu sehen. Sie probiert einen Mantel. Der Spiegel schaut aber nicht nur zu. In Echtzeit überträgt er die Bilder von der Kleiderprobe in soziale Netze. Die Freundinnen, sie haben immer Zeit, kommentieren live. Vom positiven Feedback sichtlich enthusiasmiert, tätigt die Dame überglücklich den Kauf - ihr Handy, tief mit dem Geschäft verbunden, bezahlt selbsttätig. Ein automatisch gewährter Rabatt markiert das Happy End dieser "customer journey".
Hans-Christian Dany mutmaßt in seinem Essay "Morgen werde ich Idiot", dass die Kybernetik und der Mensch eins werden, wo sie es noch nicht geworden sind. Alles regelt sich wie von selbst, weil alle einander gegenseitig kontrollieren. Wir bewerten einander permanent selbst - auf Facebook, bei Amazon, bei Tripadvisor, praktisch überall im Netz. Ein alter Traum des Kybernetikers Heinz von Foerster wird wahr: der permanent beobachtete Beobachter. So ein Wesen kennt keinen blinden Fleck mehr. Jeder überwacht jeden, es kommt einem normal vor.
Die NSA wäre dann nichts anderes als der oberste Bewerter. Auch dafür gibt es ein altes Wort: Gott. Gar nicht so wenige glauben an das "wachsame und allsehende Auge auf die Welt", schreibt der Chaos-Computerclub-Sprecher Frank Rieger in der "FAZ". Und fühlen sich eigentlich wohl unter der immerwährenden Observanz.
Doch sie unterliegen einem Fehlschluss, der laut dem US-Publizisten Evgeny Morozov zentral ist für das Big-Data-Heilsversprechen: Alle Probleme, die noch nicht gelöst sind, beruhen angeblich auf unvollständiger Information. Meistens läuft die Lösung auf einen neuen Dienst, ein neues Gadget, eine neue App hinaus statt auf eine politische oder ökonomische Debatte. "Solutionismus" nennt er diese Haltung. Was Fortschritt ist, ergibt sich aus den Businessplänen der mächtigen Internet-Konzerne.
Die Big-Data-Gewinner, meinen manche Experten, werden aber auf lange Sicht jene sein, die auch Open Data betreiben. Und Datensicherheit, Kundennutzen, Transparenz und Verhältnismäßigkeit nach dem Motto gewährleisten: Meine Daten gehören mir, wer sie nutzen will, muss mit mir verhandeln. Das bekommen langsam auch die großen Internet-Konzerne zu spüren, deren Geschäftsmodell nicht so weit weg ist von jenem der viel geschmähten NSA: Sie bieten Bequemlichkeit, Spaß und Virenschutz, verlangen aber im Gegenzug, dass man sich ihrer mitunter eigenartigen Rechtsauffassung unterwirft und Abgaben in Form von Daten erbringt, über die sie dann nach Belieben verfügen.
Potenziell würde auch sie eine UN-Konvention der digitalen Rechte betreffen, wie sie protestierende Schriftsteller fordern. Wenn Algorithmen mehr Macht bekommen, müssen mehr Möglichkeiten verfügbar sein, um an ihnen zu zweifeln. Denn nichts ist schwerer, als gegen eine Information anzukämpfen, die auf einem Display steht.
Die Polizisten vor meiner Tür waren sich ihrer Sache sicher. Nach einer vergeblichen Runde durch Küche und Wohnzimmer zeigte die nächste Ortung jedoch, dass sich das gestohlene Handy zehn Kilometer weit fort begeben hatte.