Es war eine Randbemerkung, aber weil sie gar so viel erzählte über die Leute, die nicht verstehen können, nicht verstehen wollen, was los ist da draußen, blieb sie nicht nur Politikjunkies im Gedächtnis hängen. Als am späten Abend des 6. November 2012 die zweite Amtszeit für den ersten afroamerikanischen Präsidenten der Geschichte feststand, kam vom ultrakonservativen Talkshow-Star Bill OReilly eine Blitzanalyse: "Das traditionelle Amerika, wie wir es kennen, ist Vergangenheit. Ward, June, Wally und der Biber - raus hier!" Nicht nur die Auslandskorrespondenten mussten die Personen nachschlagen, auf die das Aushängeschild von Fox News als Beleg für den Untergang des Abendlands verwies. Auch die Mehrheit seiner Landsleute schien keine Ahnung zu haben: Ward. June. Wally. Biber. Bitte wer?

Die Recherche war so kurzweilig wie die Interpretation eindeutig. Alle vier trugen den Nachnamen Cleaver. Es waren keine echten Menschen, sondern Erfindungen von Joe Connelly und Bob Mosher, zwei Autoren und TV-Produzenten, die schon lange tot sind. In die US-Fernsehgeschichte gingen sie mit der Kreation einer Serie ein, die erstmals von 1957 bis 1963 über die Bildschirme flimmerte und sich, wie OReilly ein halbes Jahrhundert später bewies, zumindest bei seiner Generation derart ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, dass sie bis heute als Referenz dient, wenn ihrer Meinung nach etwas falsch läuft.

"Leave it to Beaver" ("Erwachsen müsste man sein") war eine der ersten Sitcoms rund um eine US-Musterfamilie. Die Hauptrolle spielt Theodore "Beaver" (="Biber") Cleaver: Der kleine Bub erlebt allerlei harmlose Abenteuer daheim, in der Schule und im fiktiven Vorort, in dem er mit seinem älteren Bruder Wally lebt; erzogen und behütet werden von Mutter June und Vater Ward mit einer der Eisenhower-Ära gemäßen Aufgabenverteilung. Der Rasen ist gepflegt, die Müllabfuhr pünktlich, die Straßen sind sauber, die Polizisten freundlich, die Banker ehrlich. Eine Vorortidylle aus dem Bilderbuch - und das erfolgreichste aller "arischen Melodramen der 1950er und 1960er", wie sie der Kritiker und Kommunikationswissenschafter David Marc in seinem Standardwerk "Demographic Vistas: Television in American Culture" nennt. Ein Mensch mit dunkler Hautfarbe kommt in den 234 Folgen von "Leave it to Beaver" genau einmal vor: als schwarze Haushaltshilfe, die bei einem Hochzeitsempfang aufräumen darf.
Wer das wie die prinzipielle Entwicklung der USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts verstehen will, sollte als Erstes drei Dinge tun: die Baseball-Regeln lernen, eine Biografie Teddy Roosevelts und die US-Fernsehserien ab dem Zeitpunkt ansehen, als das TV zum Massenmedium wurde.
"The Wire", "Breaking Bad", "Mad Men", "Game of Thrones", "American Horror Story", "The Walking Dead", um nur die bekanntesten zu nennen: Seit Jahren spricht man angesichts aktueller US-Hochqualitätsware von einer neuen goldenen Ära des Fernsehens. Die TV-Soziologen in den Feuilletons dies- und jenseits des Atlantiks fragen zu Recht, was diese Epen über die heutigen USA erzählen. Oder was es bedeutet, wenn dort plötzlich nicht mehr nur Stoffe aus Großbritannien (zuletzt "House of Cards") adaptiert werden, sondern auch aus Dänemark ("The Unit", "The Bridge") oder gar Österreich (Fox hat die Rechte für eine US-Version von "Braunschlag").
Tatsächlich erzählt, was sich seit der Verbindung der Küsten per Koaxialkabel Anfang der 1950er abspielte, oft mehr über die jeweilige Lage der Nation als jede Vorlesung. Als 1951 die Sitcom "I love Lucy" anlief, die in den folgenden sechs Jahren der erste Straßenfeger der US-Fernsehgeschichte wurde, war derlei noch undenkbar. Jede Woche folgten Millionen Amerikaner der Geschichte von Lucy und Ricky Ricardo (Lucille Ball und Desi Anaz waren auch im wirklichen Leben verheiratet) in ihrem Stadthaus auf Manhattans Upper East Side. Ricky leitet ein Nachtklub-Orchester, seine Frau ist, der Zeit entsprechend, nicht berufstätig, leidet aber darunter. Ein wiederkehrendes Thema sind Lucys Versuche, auf eigenen Beinen zu stehen, die zum Gaudium ihres Mannes wie des Publikums regelmäßig scheitern. Am Ende der letzten Staffel fügt sie sich dankbar in ihr Schicksal als ewige Hausfrau: Sie zieht mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn ("Little Ricky") raus in genau jene Vorstadtidylle, die die Kulisse von "Leave it to Beaver" bildet. Die Folge der Geburt von "Little Ricky" am 19. Jänner 1953 verfolgten übrigens 44 Millionen Amerikaner - nahezu alle TV-Gerätbesitzer.
Nahezu alle 1950er-Sitcoms folgten auf die eine oder andere Weise dem bewährten Muster von "I love Lucy". Eine der bekanntesten sticht durch ihren programmatischen Titel hervor: "Father knows best" ("Vater ist der Beste"). Abseits der Comedys etablierten sich schnell auch die ersten Polizeiserien, allen voran das in Los Angeles spielende "Dragnet". Die Abenteuer von Sergeant Joe Friday taten mehr für den Ruf der US-Exekutive als alle noch so spektakulär aufgeklärten Mordfälle zusammen. Mit der Realität hatte das freilich schon damals so viel zu tun wie das LAPD mit Pazifismus. Und dann waren da noch die Laufbild gewordenen Abarbeitungen der Mythen des weißen Amerika, die in die gleiche Kerbe schlugen. Allen voran "Gunsmoke" ("Rauchende Colts"), erstmals ausgestrahlt 1955 und bis heute die erfolgreichste Western-Serie aller Zeiten. Die letzte Folge wurde erst 20 Jahre später abgedreht.
