Helles Blau. Sanfte Wellen. Die ersten Strahlen der Frühlingssonne versuchen, die verschlafene Stadt zu wecken. Keine Frage, Russland ist schön, hier, in der Provinz, in Rostow, dem ehemaligen "Großen Rostow" inmitten des "Goldenen Rings" um Moskau. Die Symphonie aus alten, geheimnisvollen orthodoxen Kirchen und dem tiefblauen Nero-See lockt Touristen an. Viele sind es nicht.
Es ist April - in Russland ein noch kalter Monat. Die Sonne ist schwach. Die Verkäufer von Souvenirs hinter ihren Buden warten oft vergebens auf Interessenten. Rostow hat schon bessere Zeiten gesehen. Die prachtvollen Kirchen und Bauwerke müssen einst beeindruckend gewesen sein. Und schön. Mittlerweile hat sich allerdings Melancholie über die Stadt gelegt. Die nötige aufwendige Renovierung der alten Bauwerke schreitet nur langsam voran. Es fehlt offensichtlich an Geld. Und auch sonst ist kaum Aufbruchstimmung zu spüren. Die Wohnblocks außerhalb des unmittelbaren historischen Zentrums wirken vernachlässigt, die Straßen schmutzig und staubig.
Rostow liegt nicht in Sibirien, nicht in einer der Fernostprovinzen, wo nur noch wenige Russen leben. Rostow liegt im Herzen Russlands. Dennoch hat sich auch über die Kleinstadt im Goldenen Ring die russische Melancholie gelegt, wandern die jungen Leute ab, entvölkern sich die Städte und Dörfer der Region. Die Jugend zieht nach Moskau, nach St. Petersburg, in die ein oder andere Stadt an der Wolga, in die wenigen größeren Städte also, in denen man ordentlich verdient und in denen modernes Leben möglich ist. Die Provinz hingegen, sie provinzialisiert sich, verliert weiter an Bedeutung. Im Machtzentrum im Kreml sieht man das mit Sorge: Wie soll Russland, dieses Riesenreich zwischen Ostsee und Pazifik, überleben, wenn es sich mehr und mehr entvölkert?
Es ist nicht die Stärke Russlands, die zur Besorgnis Anlass gibt. Es ist seine Schwäche. Alle Langzeit-Indikatoren die Zukunft Russlands betreffend weisen nach unten. Die Zahl vor allem der slawischen Bevölkerung, der orthodoxen Russen, die in dem Vielvölkerreich die dominierende Ethnie stellen und auf denen der Staat aufgebaut ist, geht zurück - während die Bevölkerung in den muslimischen Republiken, etwa im wirtschaftlich gut entwickelten Tatarstan an der Wolga, wächst. Viele aus der gut ausgebildeten, urbanen Mittelschicht suchen ihr Glück im Ausland. Der ferne Osten verödet und scheint auf lange Sicht den neuen Freunden aus China zu gehören. Im Süden und in Zentralrussland breitet sich der Islam aus. In breiten Kreisen in Russland hat darob eine Untergangsstimmung Platz gegriffen, der man meist mit trotziger Demonstration der eigenen nationalen Kraft Herr zu werden versucht. Im Inland steigen die Ressentiments gegen die Gastarbeiter aus den zentralasiatischen Republiken. Und außenpolitisch verfolgt der Kreml eine Rhetorik des Auftrumpfens und eine Politik der Stärke gegenüber dem Westen. "Russland gleicht heute einem armen Mann, der ernst genommen werden will", urteilt der deutsche Sicherheitsexperte Lutz Unterseher.
Wladimir Putin ist für Überraschungen gut
Täuscht das Bild vielleicht? Immerhin ist Russland bereits einmal, unter den Romanow-Zaren, nach einer Phase der Schwäche, der "Smuta", einer "Zeit der Wirren" Anfang des 17. Jahrhunderts als Großmacht neu erstanden. Außerdem scheint es generell schwer, Prognosen über Russlands Zukunft abzugeben. So hatten sich beispielsweise nur wenige der "Kreml-Astrologen" vorstellen können, dass die Perestroika Michail Gorbatschows zum Zerfall der UdSSR führen würde - erwartete man doch auch im Westen eher den Weg in einen "demokratischen Sozialismus". Das so mächtige Sowjetimperium selbst schien jedenfalls auf Dauer angelegt. Auch dass die kommunistische Revolution 1917 ausgerechnet in dem ehemaligen Zarenreich siegte, brachte nicht nur ausgebildete Marxisten ins Grübeln. Nach deren These hätte sich die Revolution quasi naturgesetzlich zuerst in den fortgeschrittensten Staaten der Welt vollziehen müssen - Russland aber galt nach allgemeiner Übereinkunft als Europas reaktionärstes Reich. "Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium", umriss der britische Ex-Premier Winston Churchill einst die Vorgänge in dem Land.
Auch Russlands gegenwärtiger Präsident, Langzeit-Machthaber Wladimir Putin, ist für Überraschungen gut. Erstaunt nahmen die Politiker im Westen 2014 zur Kenntnis, wie der Kreml die Ukraine-Krise nutzte, um sich die Krim zu schnappen. Auch die Luftangriffe, die Russland in Syrien durchführt, kamen für viele überraschend. Nach einer Phase außenpolitischer Schwäche und Zurückhaltung nach dem Zusammenbruch der UdSSR profiliert sich Russland heute wieder als internationale Großmacht - nicht nur als Ordnungsmacht innerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion. Die Behauptung von US-Präsident Barack Obama, wonach das Land nur noch eine "Regionalmacht" sei, dürfte vielen in Moskau sauer aufgestoßen sein. Im Inland kommen die geopolitischen Muskelspiele, die Putin seinem Land verordnet, jedenfalls an: In Umfragen liegt der Präsident konstant über 80 Prozent - eine Zustimmungsrate, von der westliche Politiker zwischen Euro- und Flüchtlingskrise nur träumen können. Weit und breit ist niemand in Sicht, der Putin seinen Rang streitig machen könnte. Die große Mehrheit scheint an einem Strang zu ziehen, was man vom vielstimmigen Polit-Konzert des Westens nicht behaupten kann.