Die Unterzeichnung des Papiers jährt sich am 16. Mai das hundertste Mal. Die Rede ist vom Sykes-Picot-Abkommen, in dem der Brite Mark Sykes und der Franzose François Georges-Picot im Auftrag ihrer Regierungen die Filetierung des Osmanischen Reiches betrieben. "Im Sykes-Picot-Abkommen teilten sie das Erbe der Osmanen mit einer diagonalen, in den Sand gezogenen Linie, die sich von der Mittelmeerküste bis zu den Bergen an der persischen Grenze zog. Das Territorium nördlich von dieser willkürlich gezogenen Linie sollte an Frankreich gehen, das Land südlich davon an Großbritannien", schreibt der am Kings College in London lehrende Historiker James Barr in seinem Buch: "A Line in the Sand - The Anglo-French Struggle for the Middle East 1914-1918".

Die Linien, die damals mit Tinte auf einer Karte und ohne Rücksicht auf die ethnische Zusammensetzung in den betroffenen Regionen gezogen wurden, werden heute, 100 Jahre danach, mit Blut neu gezeichnet.

Irak und Syrien existieren de facto als Nationen nicht mehr, sondern sind zersplittert, der Libanon und Jordanien sind äußerst fragil, Ägypten ist nach der Arabellion am Tahrir-Platz und der Konterrevolution des Ancien Régime geschwächt. Der Iran konkurriert nach dem erfolgreichen Ende der Atom-Verhandlungen mit der Türkei und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in der Region.

Der Direktor des deutschen Think-Tank Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP), der deutsche Politikwissenschafter Volker Perthes, beschreibt die Entwicklungen im Nahen Osten treffend mit dem Wort "Ordnungszerfall": "Die Menschen in der Levante, in den Ländern zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Persischen Golf also, erleben, wie die regionale Ordnung oder das regionale Staatensystem sich aufzulösen scheint, ohne dass klar wäre, wie eine neue Ordnung zustande kommen kann, wie sie aussehen wird, wer sie verhandelt oder errichtet", schreibt Perthes in seinem exzellenten Essay-Band "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen".

Perthes beklagt in seinem Buch den Zerfall der Werteordnung in diesen Gesellschaften, denn die Menschen in Ländern wie Syrien, dem Irak, im Libanon oder in Iran hätten trotz aller Erfahrung von Krieg, Konflikt, Repression und Gewalt auch eine Geschichte des Zusammenlebens über ethnische, konfessionelle und politische Trennlinien hinweg gehabt. Perthes zerstreut die Hoffnung, dass diese Staaten und Gesellschaften wieder zusammenfinden würden, "wenn nur die eine oder andere Terrororganisation besiegt oder das ein oder andere Regime gefallen ist". All das spielt vor der Kulisse sich beschleunigender Entwicklungen, die weitreichende Konsequenzen haben.

Gleich vier Megatrends werden die Zukunft des Nahen Ostens auf profunde Weise prägen:

Demografie.

30 Prozent der Bevölkerung im Nahen Osten sind heute zwischen 15 und 29 Jahren alt. In Saudi-Arabien kommen 4,1 Neugeborene auf eine Frau, im Irak 4,8, im Jemen oder in Palästina mehr als fünf. Gerade in den letztgenannten Ländern werden junge Menschen größte Schwierigkeiten haben, Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze und Wohnraum zu finden - Zündstoff für politische Unruhen und Jugendproteste.

Das Ende der Öl-Epoche.

Die Welt hat bereits begonnen, sich vom Öl zu verabschieden, der Siegeszug erneuerbarer Energieträger ist nur mehr eine Frage der Zeit. Seit 2009 ist etwa der Preis von Solarpanelen um 70 Prozent gefallen, gleichzeitig steigt das Interesse an elektrogetriebenen Fahrzeugen. Die Klimakrise ist eine weitere Triebfeder der Abkehr vom Öl. Der Einfluss der Petro-Monarchien Saudi-Arabien oder Katar wird zurückgehen, während diversifiziertere Volkswirtschaften mit moderneren Gesellschaften wie etwa Iran, Libanon oder die Vereinigten Arabischen Emirate bessere Karten für die Post-Hydrokarbon-Epoche haben.

Verschiebung der Macht.

Dieser Wandel des globalen Energieregimes hat Einfluss auf die politischen Entwicklungen: Die Petro-Regimes des Nahen Ostens finanzieren staatliche Leistungen aus den Erdölerlösen, die Hand des Staates verteilt mehr oder weniger großzügig Bakschisch an das von der Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossene Volk. Die Herrschenden erwarten vor allem Dankbarkeit von ihren Untertanen. Der an der Universität von Kalifornien in Los Angeles tätige Politikwissenschaftler Michael L. Ross hat eine plausible Erklärung dafür parat, warum die wenigsten Öl exportierenden Staaten stabile Demokratien sind. Er dreht den Wahlspruch der amerikanischen Revolution - No taxation without representation, "keine Besteuerung ohne demokratische Vertretung" - einfach um: No representation without taxation, "kein Parlament ohne Steuern". Ölreiche Regimes können auf die Einhebung von Steuern weitgehend verzichten - weil sie ohnehin genug Staatseinnahmen aus den Ölerlösen lukrieren - und damit auch auf Mitbestimmung. Denn wer Geld vom Volk will, muss es auch mitreden lassen.

Während in OECD-Ländern Steuern und Abgaben zwischen 35 und 40 Prozent ausmachen, liegen die Steuern in den golfarabischen Ölförderländern im niedrigen einstelligen Bereich. "Die geringen Steuersätze geben den arabischen Bürgern keinen Anreiz zu hinterfragen, was ihre Regierungen mit ihrem Geld anstellen. Direkte Steuern (vor allem die Einkommensteuer) würden dem Bürger vor Augen führen, was er in die öffentlichen Töpfe einzahlt. In den arabischen Ländern machen aber indirekte Verkaufssteuern und Zölle den Löwenanteil der Abgaben aus", urteilt das UN-Weltentwicklungsprogramm UNDP im "Arab Human Development Report". Bis vor kurzem brauchte Saudi-Arabien einen Ölpreis von 67 Dollar pro Fass für ein ausgeglichenes Budget, heute liegt diese Zahl näher bei 100 Dollar - der tatsächliche Preis bewegt sich derzeit aber bei 37 Dollar. Damit wird das Budgetdefizit für 2015 noch höher als die vom Internationalen Währungsfonds prognostizierten 107 Milliarden Dollar liegen - die Kapitalreserven schmelzen derzeit nur so dahin. Dazu kommt, dass der Energieverbrauch im Königreich ständig steigt: Bei einem Anhalten gegenwärtiger Trends wird Saudi-Arabien bis zum Jahr 2037 zu einem Ölimporteur.