Spätestens seit dem Anbruch des digitalen Zeitalters gibt es im US-Journalismus kaum noch Gesetze, fest- wie ungeschriebene; mittlerweile darf alles, was geht, ungeachtet des Wahrheitsgehalts. Wer das nicht glaubt, schalte Fox News ein oder schlage beim Drudge Report oder bei minder populären, aber einflussreichen Blogs wie Breitbart.com oder RedState.com nach.

Insofern scheint es überraschend, dass es zumindest noch eine Regel gibt, eine letzte inoffizielle Norm, an die sich der mediale Mainstream wie die ideologisch verbrämten Nachrichtenvertreiber bis heute halten. Aus gänzlich unterschiedlichen Motiven, aber trotzdem: Dass die sogenannte "Goldwater-Regel" bis heute von niemandem verletzt wird, darf angesichts der ansonsten so gnadenlosen wie teilweise offen menschenverachtenden Berichterstattung mancher US-Medien durchaus als Erfolg gelten.

- © Karikatur: Markus Szyszkowitz
© Karikatur: Markus Szyszkowitz

Die Regel, benannt nach dem Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei im Jahr 1964 - der ersten Wahl nach der Ermordung John F. Kennedys -, wurde im selben Jahr von der American Psychiatric Association erfunden, der Standesvereinigung der US-Psychiater. Ihre Einführung war die Reaktion auf eine im längst verblichenen Politmagazin "Fact" veröffentlichte Umfrage unter den Mitgliedern der American Psychiatric Association, die eine professionelle Meinung zur Person Barry Goldwaters abgeben sollten. "Abartig" lautete damals noch das harmloseste Urteil, "paranoid-schizophren" der allgemeine Konsens der Seelenklempner über dessen Geisteszustand.

Unter anderem wurde Goldwater, einem strengen Anti-Kommunisten und entschiedenen Gegner der rechtlichen Gleichstellung von Afroamerikanern, angedichtet, dass er unbewusst seinen jüdischen Vater hasse und darunter leide, als Kleinkind einem "zu strengen Toilettentraining" unterworfen gewesen zu sein. Nachdem die Geschichte erschienen war, ließ die American Psychiatric Association ihre Mitglieder wissen, dass sie derlei künftig zu unterlassen hätten, so sie ihre Zulassung nicht gefährden wollten; derartige Meinungsäußerungen seien schlicht "unethisch".

Auch wenn bis heute keiner mehr von denen, die fürs Weiße Haus kandidieren, vor psychiatrischen Ferndiagnosen Angst haben muss, die dann in der Öffentlichkeit breitgetreten werden: Der Preis, den er oder sie dafür bezahlt, ist nach wie vor extrem hoch. Wer ganz im Ernst Präsident des mächtigsten Landes der Welt werden will - zu den weniger beziehungsweise gänzlich Unernsten, die es auch zuhauf gibt, später -, muss Strapazen auf sich nehmen, die an und für sich weit über jede menschliche Belastbarkeitsgrenze hinausgehen.

Er oder sie muss sich schon im Vorfeld Geldgeber suchen, die einem jenen langen Atem verschaffen, den ein immer kostenintensiver werdender Wahlkampf erfordert. Er oder sie muss sich bei Lokalpolitikern, Abgeordneten und Senatoren einschleimen, in der Hoffnung, dass sie eine parteiinterne Wahlempfehlung abgeben. Und nicht zuletzt muss er oder sie mindestens eineinhalb Jahre lang kreuz und quer durchs Land reisen, um sich den potenziellen Wählerinnen und Wählern zu stellen, sich ihre wahren (selten) und gefühlten (öfter) Sorgen, Nöte und Anliegen anzuhören. Von den abertausenden Interviews, Stellungnahmen und Wortspenden zu immer neuen aktuellen Anlässen gar nicht zu reden, die sich die moderne Medienmaschinerie erwartet und deren Bandbreite von der kleinen, aber einflussreichen Lokalzeitung von Des Moines, Iowa, bis zur landesweit ausgestrahlten Late-Night-Show aus New York City reicht. Ausrutscher darf er oder sie sich dabei kein einziges Mal leisten, wenn er sich nicht noch in derselben Minute zum Gespött der riesigen und politisch immer wichtiger werdenden Internet-Gemeinde machen will.

Bedenkt man, dass die bisherige Aufzählung nur das absolute Pflichtprogramm darstellt, scheinen Fragen wie diese mehr als berechtigt: Wie muss ein Mensch gebaut sein, der sich das alles und noch viel mehr antut? Nur um als Dank dafür den stressigsten Job der Welt zu bekommen? In einem Land, in dem rund drei Viertel der Menschen glauben, dass Politiker prinzipiell keine vertrauenswürdigen Zeitgenossen sind? Hier der Versuch einer Typologisierung der in den USA auftretenden Spezies des Homo praeses:

Der Narziss.

Bei der Frage nach der Motivation von Kandidatinnen und Kandidaten, die neu in der Politik sind, die gern zu Beginn von Debattenrunden gestellt wird, antworten diese verlässlich mit den in den USA üblichen Floskeln und Formeln: Es sei eine Ehre, dem eigenen Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern zu dienen, und - egal, welchen Beruf man ausübt oder ausgeübt hat - man sei schon allein kraft der durch den jeweiligen Job erworbenen Fähigkeiten bestens dafür geeignet, das Land zu führen.

Von den zahlreichen anderen, durchwegs positiven Eigenschaften kaum zu schweigen. Derlei Drang, sich von der Extrem-Schokoladenseite zu zeigen, gehört in den USA nicht nur zum alltäglichen politischen Handwerk, sondern ist im Fall der heutigen Polit-Newcomer oft ganz und gar ernst gemeint. "Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze", wusste schon Oscar Wilde. Anders als bei der Demokratischen Partei, in der sich mit Stand Ende 2015 drei Berufspolitiker um die Nominierung zum Kandidaten matchen (Ex-Außenministerin Hillary Clinton, Senator Bernie Sanders und Ex-Gouverneur Martin O’Malley), tritt die Spezies der Extrem-Narzissen heuer vermehrt bei der "Grand Old Party", den Republikanern, auf. Von den Leuten, die sich dort um die Stimmen der Delegierten bewerben, tragen nicht wenige ihren Narzissmus offen vor sich her - und er gereicht ihnen nicht zum Nachteil.