Die Lebenswelten werden individueller, die Sichtweisen polarisieren sich. Wie solidarisch können die Menschen untereinander in so einer Gesellschaft noch sein?

Illustration: Dietmar Hollenstein
Illustration: Dietmar Hollenstein

In Chicago kann man die Zukunft sehen. In den neuen Cafés an der North Milwaukee Avenue und Umgebung, ein paar U-Bahn-Stationen von Downtown entfernt, benötigt man etwas Zeit und noch mehr Geduld. Eine simple Bestellung kann schon einmal 20 Minuten dauern. Wobei dies weniger dem Ansturm geschuldet ist als der rituellen Prozedur, mit der sich das Personal, das sich hier als Barista versteht, der Kaffee- und Teezubereitung widmet.

Auch wenn die USA mit ihrer Tradition der ungenießbaren Heißgetränke gebrochen haben, findet man in den klassischen, alten Diners, auch in Chicago, nach wie vor diese schwarze Suppe auf der Warmhalteplatte, die Kaffee entfernt ähnelt. Unter Tee versteht man in diesen Lokalen ein Lipton-Sackerl im eher lauwarmen Wasser mit weißlichem Schaum an der Oberfläche. Es sind Getränke für Mutige.

In den neuen Cafés ist dagegen schon die Bestellung ein Erlebnis. Es gibt eine große Auswahl an Tees und speziellen Kaffeezubereitungsarten, dann wird - tatsächlich! - die Grammwaage hervorgeholt, der selektierte Tee exakt abgewogen, mit echt kochendem Wasser übergossen und eine Eieruhr programmiert. Vermutlich eine solche, die die Zeit in Zehntelsekunden bricht.

Interessant ist dabei nicht, dass auch die avancierte Trinkkultur in Cafés in den USA angekommen ist, sondern vielmehr, dass es offenbar dazwischen nichts mehr zu geben scheint, zwischen der kulinarischen Bedrohung in Form einer lauwarmen Brühe und der fast ins Religiöse gehobenen Art der Kaffee- und Teezubereitung. Zumindest, wenn man das grassierende Phänomen Starbucks außer Acht lässt.

Die Aufwertung des Normalen zum Besonderen kennzeichnet dabei eine generelle Entwicklung, die sich nicht nur bei Kaffee und Tee und auch nicht nur entlang der North Milwaukee Avenue in Chicago zeigt. Die Evolution des Konsums nimmt bisweilen bizarre Formen an. Gut allein reicht schon lange nicht mehr. Doch der Konsum ist auch nur eine von mehreren Beobachtungen, die offenbaren, dass die Lebensweisen der Menschen, und das besonders augenscheinlich in Großstädten, regelrecht auseinanderzukippen scheinen und in Extreme verfallen.

Auch in gesellschaftspolitischen Fragen findet eine rasante Entwicklung statt, jedoch eine exakt umgekehrte. Sie reduziert das einst Besondere zum Normalen. Das betrifft ganz allgemein Sexualität sowie speziell Homosexualität. Es betrifft ethischen Konsum bis hin zum Veganismus sowie Multikulturalität und Political Correctness. Dabei wächst die Anzahl und Geschwindigkeit der Diskurse. Ein Beispiel dafür bietet die Schwulen- und Lesbenbewegung: 16 Jahre kämpften diverse Organisationen in Österreich für die Abschaffung des "209ers", der Geschlechtsverkehr von 19-jährigen homosexuellen Männern mit unter 18-Jährigen unter Strafe stellte. Erst 2002 kippte der Verfassungsgerichtshof diesen diskriminierenden Paragraphen. Das ist also noch nicht lange her. Das Tempo der rechtlichen Angleichung hat seither merklich zugenommen. Seit fünf Jahren können sich gleichgeschlechtliche Paare verpartnern, heuer fiel das Adoptionsverbot. Für die Homo-Ehe gibt es zwar keine politische Mehrheit, wenn man aber Umfragen Glauben schenkt, befürwortet bereits ein Großteil der Bevölkerung die Öffnung der Ehe für Homosexuelle. Im katholischen Irland hatten bei einem Referendum 62 Prozent dafür gestimmt.

Es ist der Gang der Dinge, dass aus Meinungen und Forderungen einer bestimmten, anfangs oft kleinen Gruppe irgendwann Mehrheitsmeinungen werden können. Und manchmal entsteht in weiterer Folge sogar ein gesellschaftlicher Konsens. So wird heute kaum jemand das Frauenwahlrecht in Frage stellen oder das Schuldprinzip bei Ehescheidungen zurückfordern, dabei ist Letzteres in Österreich erst 1977 aus dem Gesetz verschwunden.

Gleichzeitig mit der wachsenden Dynamik der gesellschaftspolitischen Debatten ist aber auch eine reaktionäre Strömung festzustellen, die Liberalisierungstendenzen sehr ablehnend gegenübersteht. Wobei einander die Apologeten und Antagonisten zunehmend unversöhnlich und verständnislos gegenüberstehen. Dieser, in seiner Lautstärke auch durch soziale Medien. Blogs und Foren verstärkte Konflikt geht so weit, dass die Gegenseite in klischeebehafteten Beschreibungen entlang vermuteter Lebensweisen verunglimpft wird. Auf der einen Seite die Grün-wählenden, homosexuellen Radfahrer, politisch überkorrekten Bio-Veganer und Gutmenschen, auf der anderen Seite die FPÖ-wählenden Gabalier-Jünger mit Hang zu Schäferhund, Menschenfeindlichkeit, schlechter Ernährung und Rechtschreibfehlern.

Politisch ruhige politische Jahrzehnte
Dass sich die Realität natürlich nicht an diese Klischees hält, tut zwar nichts zur Sache, doch machen sich mitunter jene automatisch verdächtig, die Lebensweisen der jeweils anderen Seite übernehmen. Dann herrscht Rechtfertigungsbedarf.

Dem politischen Diskurs ist eine derart unversöhnliche, mit starren Positionen festgezimmerte Unstimmigkeit nicht gerade zuträglich. Doch sind politische Auseinandersetzungen und damit einhergehende gesellschaftliche Spaltungen keine historische Auffälligkeit. Eher waren die vergangenen Jahrzehnte in dieser Hinsicht ungewöhnlich ruhig. Wobei zwei Beobachtungen interessant sind. Erstens spielen die beiden ehemaligen Großparteien und politischen Lager in diesem Diskurs fast keine Rolle mehr. SPÖ und ÖVP stehen mittlerweile wohl beide für eine mehr (ÖVP) und weniger (SPÖ) konservative Linie, oder beide sind müde geworden, jahrzehntelange Dauerkämpfe in der Öffentlichkeit auch weiterhin auszutragen. So ist derzeit in Sachen Homo-Ehe die Luft auf Regierungsebene völlig draußen.