Paris. Die vielleicht interessanteste Neuerung in diesem Winter in Paris ist folgende: Am Boulevard des Italiens, direkt neben der Pariser Oper, liegt eine McDonald’s-Filiale. Die hat eine neue, innovative Idee, wie man den zahlreichen McMüll entsorgt, der nach dem Essen übrig bleibt. Ein knabenhoher, roter Müllschlucker fordert dazu auf, den Inhalt seines Tabletts hineinzukippen, nachdem er sich automatisch geöffnet hat.

Dieser Müllschlucker macht beim Müllschlucken so interessante Geräusche, dass jeder dabei ganz fasziniert zuhört; da wird gequetscht, geknautscht, zerdrückt, was sich ihm in den Weg stellt. Die Leute bringen brav ihren Müll zum Müllschlucker, das ist ganz anders als in Österreich, das wohl das einzige Land ist, in dem McDonald’s, für viele ein Symbol westlicher Dekadenz, es von Beginn an versäumt hat, die Kunden zum Wegräumen zu erziehen.

Doch das, was wir in den 80er und 90er Jahren gelernt haben, gilt hier nicht mehr: Die Mülltrennung in Papier, Plastik, Speisereste findet nicht statt, sondern alles landet in einem Sack. Schön platzsparend gepresst. Das ist auch ein Sinnbild dieser nach Bequemlichkeit strebenden Wohlstandsgesellschaft, die unter den Konsequenzen ihrer scheinbaren Erhabenheit (noch) nicht leidet.

Draußen, neben der Filiale, ist ein Kino. Dort läuft gerade "La famille Bélier", derzeit der größte Kinohit in Frankreich: Vier Millionen Besucher waren schon drin in der ruralen Romanze, in der die Tochter eines gehörlosen Bauers und seiner gehörlosen Frau als einzige Hörende und Sprechende in der Familie den Laden schupft. Der Kitsch der Dramaturgie will es, dass ausgerechnet sie die allerschönste aller Stimmen hat und deshalb bald Gesangskarriere in Paris machen könnte. Wenn da nicht die liebenswerten Landeltern wären und die Provinz mit ihren Kühen. Die urbanen Franzosen, so zeigen die Einspielergebnisse, stehen auf solche Kuhmist-Romantik, solange sie den Mist weit weg wähnen.

Alles wie immer?

Vor dem Kino, direkt neben der teuren Boutique, wo man Lancel-Taschen ab 500 Euro verkauft, liegt ein Paar auf dem Trottoir, mit Decken eingehüllt, den Rücken direkt an der Straße, keinen Schutz suchend, nicht nach Geld bettelnd. In ihren Armen liegt ein etwa sechs- oder siebenjähriger Bub, er hat sich zur Mama gekuschelt. Ihr weniges Hab und Gut bewahren sie in Plastiksackerln auf. Der warme Luftzug aus dem Metro-Gitter kompensiert die zwei Grad kalte Nacht ein wenig. Die drei sehen aus wie Franzosen. Aber was heißt das schon?

Bilder, die man leider kennt. Paris zeigt sich dieser Tage, zwei Wochen nach den verheerenden Terroranschlägen auf "Charlie Hebdo", wie gewohnt: Viele Menschen zwängen sich in den kleinen Restaurants und Brasserien auf engstem Raum zusammen, um übergroße "Plats du jour" zu speisen. Unzählige Touristen nutzen im Jänner den Ausverkauf bei Hermés, Chanel und Dior.

Jedes Jahr um diese Zeit, Mitte Jänner, verschlägt es rund 130 Filmjournalisten aus ganz Europa nach Paris, wo die Unifrance, die Agentur zur internationalen Bewerbung des französischen Films, zu einem dreitägigen Interviewmarathon einlädt, bei dem die Journalisten mit Regisseuren und Schauspielern über deren kommende Filme sprechen können.

Fast keiner hat die Reise hierher nach den Terroranschlägen abgesagt. Darüber nachgedacht haben aber viele: "Nach dem, was man im Fernsehen gesehen und in den Zeitungen gelesen hat, wurde einem doch recht mulmig", formuliert es ein Kollege aus Spanien. Die Ehefrau des griechischen Kollegen blieb wegen des Terrors daheim. "Sie meinte, es wäre wohl langweilig, wenn sie nur im Hotel sitzen könne."

Die Pariser selbst scheinen sich gar nicht darum zu scheren, was hier am 7. Jänner geschehen ist. Die Nation verweilt zwar offiziell in Trauer, und die Titelseiten der Tageszeitungen spekulieren weiter über die Anschläge ("Libération" hat dazu eine Sondernummer herausgebracht, andere skandieren auf den Titelseiten in großen Lettern "Liberté, Égalité, Fraternité"), aber das betriebsame Paris ist von Panik weitgehend verschont geblieben.

"Now it’s really safe here"

Der Taxifahrer betont: "Now it’s really safe here", und er meint damit die allerorts aufgerüstete Überwachung durch schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten, die Paris das Gesicht eines Hochsicherheitstraktes geben soll. Allein: Außer vor augenscheinlich neuralgisch wichtigen Punkten wie Botschaften, Hotels oder Bahnhöfen ist von der erhöhten Sicherheitsstufe nichts zu merken. Die Metro ist vollgestopft wie immer, auch am Sonntag. Keine Polizei, kein privates Wachpersonal, zumindest kein sichtbares. Wozu auch? "Die Anschläge lassen sich sowieso nicht verhindern", meint der Taxler. "Wer einen Anschlag verüben will, der schafft es auch." Im undurchsichtigen Gewusel dieses Zwölf-Millionen-Großraums kein Wunder.

Die Pariser Bevölkerung ist in Sorge, ja. Aber nicht so hysterisch wie der Rest der Welt. Hier, inmitten des Ausverkaufstrubels zwischen Printemps und Galéries Lafayette zählt das Schnäppchen immer noch mehr als die Angst vor einem Attentat. "JE SUIS CHARLIE" verkauft sich mittlerweile als Ansteckbutton sehr gut. Und wer noch eine der ausverkauften Ausgaben der Satirezeitung will: Mancher Kiosk-Besitzer bietet sie unter der Hand für 30 Euro an.

Die französische Kulturministerin Fleur Pellerin gab die Devise vor: "Wir wollen die Kunst als Speerspitze gegen den Terror einsetzen", sagte sie uns energisch. Wie das genau aussehen soll, darüber sind die meisten Filmkünstler, die Rede und Antwort stehen, (noch) ratlos. "Die Ereignisse sind noch so frisch, die Emotionen noch so stark, da hat man noch keine Lösung", sagt etwa Regisseur Benoît Jacquot. "Nachdenklich stimmt mich jedenfalls, dass die Täter Franzosen waren", meint er. "Ich hätte nie für möglich gehalten, dass so etwas bei uns passieren kann", meint Filmemacher Patrice Leconte resigniert. "Es gibt so viele junge Menschen, die sogar befürworten, was in Paris passiert ist", zeigt sich Regisseur Marc Fitoussi schockiert. Der muslimische Taxifahrer meint, er schäme sich dafür, dass Menschen im Namen seines Glaubens mordeten.

Der Müllschlucker bei McDonald’s, so versichert uns die Reinigungskraft, werde übrigens von allen Parisern genutzt, ganz egal, woran sie glaubten.