Zum Hauptinhalt springen

"Ich war ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist"

Von Martina Pock

Walter Goldberger überlebte den Holocaust versteckt bei Bauern.


Die ausgebrannte Grazer Synagoge nach dem Novemberpogrom.
© Karl Hierzer/Multimediale Sammlungen/UMJ

Graz. Vor 75 Jahren gingen in der Nacht vom 9. auf den 10. November in ganz Österreich Synagogen und Bethäuser in Flammen auf. Der Tempel am Gries Kai in Graz war der erste, der dem Feuer, geschürt aus Aggression und Antisemitismus, zum Opfer fiel.

Der Grazer Jude Walter Goldberger hat das Novemberpogrom in Graz als Kind miterlebt, den Holocaust überlebte er bei Bauern versteckt. An die Zeit als Hofknecht muss der ehemalige Elektroschweißer ebenso oft zurückdenken wie an die schrecklichen Geschehnisse, die ihm und seiner Familie widerfahren sind. Die Novemberpogrome, wie sie in jenen Tagen im gesamten Deutschen Reich vorkamen, waren die Initialzündung für eines der größten Verbrechen der Menschheit.

"Gegen 1938 hat das alles angefangen. Wenn wir Kinder beim Schultor herausgegangen sind, standen da die Kinder der benachbarten Gries Kai-Schule und riefen uns zu: ,Jud’, spuck in Hut, sag’ der Mutter, das ist gut.‘ Das reimt sich zwar, aber ich sehe keinen Sinn darin. Aber das hat sehr wehgetan. Die Jungs waren schon etwas älter und stärker als wir und haben uns dann auch mit Steinen beworfen, bespuckt und haben mit uns gerauft."

An jene Tage, als der Grazer Tempel in Flammen aufging, sein Vater aus Österreich fliehen musste und er zu fremden Bauern kam, kann sich der 1929 geborene Walter Goldberger noch genau erinnern. Der Sohn eines jüdischen Ledergroßhändlers und einer vom römisch-katholischen zum jüdischen Glauben konvertierten Modistin war damals acht Jahre alt.

"Meine Großmutter wachte damals in der Nacht auf und sagte zu meiner Mutter: ,Hilde, stell dir vor, der Tempel brennt.‘ Ich bin dann gleich zum Fenster im zweiten Stock hin und hab’ nachgesehen. Unser Haus war vom Tempel nur etwa 300 Meter Luftlinie entfernt, das Erste, was ich sah, war eine riesige dunkle Flamme. In der Früh bin ich dann hin, um zu schauen. Da standen die Leute schon herum, Neugierige und verhasste Leute. Ein Teil von ihnen war irgendwie betreten, denen hat das leidgetan. Andere haben sich wiederum über die Sache lustig gemacht.

Dann hat man etwa 30 junge Männer und Mädchen auf einen Laster aufgeladen und weggeführt. Einige Damen - es waren viele Damen anwesend - haben gespuckt und geschrien: ,Bringt’s die Bestien um!‘ Dann hat ein Mann zu einem anderen gesagt: ,Du, da oben in der Kuppel, da haben die Juden ihr Geld drinnen gehabt.‘ Das war ein absoluter Blödsinn, denn das Geld war in der Gemeindekassa, circa 7000 Reichsmark waren das. Ich hatte damals großes Glück, dass mich dort niemand erkannt hat. In meinem Viertel (Gries) haben großteils Kommunisten und Sozialisten gelebt, die haben mich ein bisserl geschützt. Wäre ich in einem Herrschaftsviertel gewesen mit vielen Christlichsozialen, wer weiß."

Noch in derselben Nacht wurden in der Steiermark 350 Juden verhaftet und am 11. November um 18.15 Uhr per Bahn in das Konzentrationslager Dachau transportiert. Manche von ihnen waren erst 15 Jahre alt. Fast alle von ihnen kamen bis Anfang 1939 wieder frei, wurden aber gezwungen, das Reich auf schnellstem Wege zu verlassen. "Im Zuge der augenblicklichen Aktionen werden sie vollkommen aus dem flachen Land entfernt werden", heißt es im Bericht des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS vom 23. November 1938 über die Ausweisungen. Unter den Vertriebenen befanden sich auch die drei Grazer Nobelpreisträger Otto Löwi (1936, Medizin), Erwin Schrödinger (1933, Physik) und Victor Franz Hess (1936, Physik). Ende 1939 war Graz "judenfrei".

"Wir hatten zwar schon von Dachau gehört, aber Genaues haben wir nie gewusst. Ich hab auch nichts gewusst von einem Auschwitz und einem Mauthausen."

Dass es sich bei den Pogromen, anders als später behauptet wurde, um keinen "spontanen Volkszorn" gehandelt hat, belegen SA-Protokolle und Zeitzeugenberichte. Schon am 8. November wurden in der jüdischen Volksschule, die sich neben der Synagoge befand, Fässer mit einer leicht entflammbaren Flüssigkeit angeliefert, die der Schulwart in Verwahrung nehmen musste. Auch die Feuerwehr wurde informiert und überwachte von Beginn an den Brand, um ein Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Gebäude zu verhindern.

Goldberger mit 15 Jahren. Das Foto diente einer "anthropologischen" Untersuchung über seine jüdische Herkunft.
© privat

Doch nicht erst in der Nacht des Pogroms, sondern bereits einige Monate davor, vor dem "Anschluss", drohte die Lage in Graz schon einmal zu eskalieren: Demonstrationen und Kundgebungen der Nationalsozialisten standen wochenlang auf der Tagesordnung.

Nazi-Putsch lag in der Luft

Eine Rede von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am 24. Februar, die via Lautsprecher auf dem Grazer Hauptplatz übertragen wurde, wurde von tausenden Nationalsozialisten mit Parolen oder dem Horst-Wessel-Lied übertönt. Da für die folgenden Tage weitere Kundgebungen und ein etwaiger Putsch durch die Nationalsozialisten erwartet worden waren, wurden Truppen und Polizei aus Wien nach Graz verlegt, Einheiten des Bundesheeres riegelten die Stadt ab. Der Einmarsch der deutschen Truppen in die Stadt der "Volkserhebung" ein paar Wochen später wurde dann frenetisch und triumphal gefeiert.

Schon vor dem "Anschluss" war die Nachfrage nach rotem Stoff, Fackeln und Fahnen von den Geschäften kaum zufriedenzustellen. Als Adolf Hitler am 3. April sein Versprechen einlöste und in einem Triumphzug, begleitet von einem Aufgebot von 20.000 Soldaten, Polizisten, SA- und SS-Männern durch Graz fuhr, kannte die Euphorie keine Grenzen. Sonderzüge brachten zehntausende Steirer nach Graz.

Der Glaube an Schutz

Von da an häuften sich die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung. Durch Maßnahmen wie Berufsverbote, Arisierungen von Geschäften und dem Ausschluss von jüdischen Schülern aus öffentlichen Schulen versuchte das Regime, die jüdische Bevölkerung zur Emigration zu zwingen. Die Zahl derer, die vor 1938 auswanderten, war noch relativ gering. Im Mai 1939 waren von einst 2300 Juden aber nur noch etwa 600 in der Steiermark, vor allem Frauen und Kinder. Walter Goldbergers Mutter glaubte, durch eine Rekonvertierung zum römisch-katholischen Glauben das Schlimmste verhindern zu können. Goldbergers Vater war indessen wie viele steirische Juden nach Jugoslawien geflüchtet.



"Alle anderen sind emigriert, plötzlich war keiner mehr da. Ich war ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Mein Vater war auch weg, geflüchtet nach Agram (Zagreb, Anm.), wo eine Schwester von ihm lebte. Meine Mutter hatte geglaubt, da sie jetzt wieder römisch-katholisch war, da kann dem Buben nix passieren und meiner kleinen Schwester auch nicht. Es ist aber dann ganz anders gekommen. Für die Nationalsozialisten war sie schlimmer als eine Jüdin, denn sie hatte ,Rassenschande‘ begangen."

Für Walter Goldberger und seine jüngere Schwester wurde die Lage als "Volljuden" von Tag zu Tag gefährlicher. Der Vater der Kinder hatte die Mutter vor seiner Flucht noch ermahnt, die beiden, wie mehr als 10.000 jüdische Kinder, mit einem Kindertransport nach England zu bringen, doch die Mutter lehnte dies ab und versuchte die beiden Kinder auf dem Land zu verstecken.

"Meine Mutter ist dann von der Gestapo verhaftet worden und wurde ausgefragt, mit Watschen, wo ihre Kinder seien. Meine Schwester ist nach Oberfellach gekommen zu entfernten Verwandten. Dort ist es ihr nicht so gut gegangen, dort war sie bei einer strengen und fanatischen katholischen Frau. Ich konnte dann nirgends mehr unterkommen und kam zu einem Bauern nach Kalsdorf (knapp 15 Kilometer südlich von Graz, Anm.), dessen Familie mit meiner Mutter befreundet war. Der wollte mich sogar adoptieren, aber das wollte meine Mutter nicht. Dort bin ich dann auch zur Schule gegangen. Eines Tages musste ich zum Direktor. Er saß mir gegenüber und schüttelte nur den Kopf. Ich dachte schon, ich hätte schlechte Noten gehabt. Doch dann sagte er: ,Buberl, Buberl, du tust mir leid, aber deine Papiere stimmen nicht. Ich hab’ dich eh schon so lange hierbehalten, aber ich kann das nicht mehr länger.‘ Das war ein Nazi in einer SA-Uniform, wenn der bei der betreffenden Stelle angerufen hätte, wäre es aus gewesen mit mir. Der hat mir praktisch das Leben gerettet.

Mit einem Milchlaster bin ich dann nach Weiz gekommen. Der Bauer dort hat mir zur Begrüßung seine riesige Hand gegeben und gesagt: ,Bua, wir werden uns schon vertragen.‘ Von dort bin ich aber dann auch wieder weg und wieder zu einem anderen Bauern und wieder zu einem anderen. Eines Tages kam meine Mutter, ich habe gerade am Feld gearbeitet. Sie stand vor mir, kreidebleich, und sagte: ,Geh ja nicht auf die Straße, die Gestapo sucht dich schon wieder.‘

Zeitzeuge Walter Goldberger erzählt seine Geschichte: "Ich habe jahrzehntelang geweint, jetzt will ich nicht mehr."
© Pock

Die Leute sind oft stutzig gewesen und haben gefragt: ,Wo ist denn der Bua her?‘ Wenn die das gewusst hätten, wäre es gefährlich für mich geworden - und auch für die Bauern, bei denen ich gelebt habe. Wenn das rausgekommen wäre, hätte man die wahrscheinlich gleich am Misthaufen erschossen. Ich als Bub war mir der ganzen Sache nicht richtig bewusst. Ich hatte die ganze Härte und Brutalität des Dritten Reichs nicht gekannt. Über das Ganze geredet haben die Bauern ja auch nicht."

Als der Krieg vorbei war, ist Walter Goldberger wieder zurück zu seiner Mutter nach Graz gekommen. Laut einem Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde vom März 1946 waren bis zum damaligen Zeitpunkt erst 18 steirische Juden wieder zurückgekehrt. Auch Karl Goldberger, Walter Goldbergers Vater, kam, nachdem er in einem Zwischenlager interniert war, im Jahr 1946 wieder nach Graz.

",Mama tot, Zora tot‘, hat er damals gesagt und zu weinen begonnen, mehr hat er nicht mehr herausgebracht. Meine Großmutter und meine Tante sind beide in Treblinka vergast worden. Ich habe jahrzehntelang geweint, jetzt will ich nicht mehr. Ich bin aufgewachsen in der sogenannten ,Systemzeit‘, das war eine fürchterliche Zeit. Für einen Maulhelden wie Hitler war es ein Leichtes, nach oben zu kommen. Er hat die Kinderbeihilfe eingeführt, hat die Reichsautobahn gebaut, er hat gerüstet und von den anderen Ländern auch noch Geld zusammengeholt. Die Leute hatten auf einmal einen höheren Lebensstandard. Ich verurteile sie nicht, sie wussten ja nicht, wie das Ende ausschauen wird."

Die jüdische Gemeinde in Graz zählt heute etwa hundert Mitglieder. Auf dem Platz der ehemaligen Synagoge steht am heutigen David-Herzog-Platz 1, benannt nach dem ehemaligen Rabbiner, seit 2000 eine neue Synagoge.

Zeitleiste zum Pogrom in Graz
3. und 4. April 1938
Adolf Hitler besucht die Steiermark und Graz, die Stadt der "Volkserhebung".
4. November 1938
Von insgesamt 2300 Juden in der Steiermark sind 417 Juden nach Palästina emigriert.
7. November 1938
Der NS-Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath wird vom 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan aus Rache für die Vertreibung seiner Familie in Paris erschossen. Das NS-Regime bedient sich dieses Attentats, um noch schärfer gegen Juden und jüdisches Eigentum vorzugehen. Die Novemberpogrome im gesamten Deutschen Reich werden vorbereitet.
8. November 1938
In Graz werden Fässer mit einer leicht entflammbaren Flüssigkeit in die neben der Synagoge liegende jüdische Volksschule geschafft.
9. November 1938
SS und SA treffen Vorbereitungen für den "spontanen
Volkszorn".
10. November 1938
0.30 Uhr: Die Gestapo erhält mittels Fernschreiben Kenntnis von bevorstehenden Aktionen.
ca. 1 Uhr: Die Kuppel der Synagoge steht lichterloh in Flammen und stürzt ein.
ca. 2.30 Uhr: Der Rabbiner David Herzog wird aus seiner Wohnung gezerrt, misshandelt und mit dem Tod bedroht. Ihm gelingt die Flucht nach England.
3.30 Uhr: Festnahmen von 350 Juden durch die Gestapo.
Nachmittag: Die Zeremonienhalle auf dem jüdischen Friedhof in Graz geht in Flammen auf.
11. November 1938:
Transport der Gefangenen in das Konzentrationslager Dachau.