Brüssel. Auch Kritik kann manchmal nicht ungelegen kommen. Martin Schulz ist PR-Profi genug, um zu wissen, dass Angriffe auf seine Person diese bekannter machen. So war es schon vor mehr als zehn Jahren. Im EU-Parlament erwiderte der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf die Vorwürfe des deutschen SPD-Abgeordneten mit dem Angebot, die Rolle eines Kapos in einem KZ-Film zu übernehmen, der gerade in Italien gedreht werde. Der Parlamentarier erhielt daraufhin mehr mediale Aufmerksamkeit als zuvor.

Und auch jetzt kann seine Partei hoffen, dass die aktuelle Auseinandersetzung das Augenmerk verstärkt auf Schulz und den kommenden Urnengang lenkt - zumindest in Deutschland. Der Streit zwischen Christ- und Sozialdemokraten könnte dort nämlich dem bisher lauen EU-Wahlkampf ein wenig Schärfe verleihen. Noch dazu bietet die Empörung über Aussagen aus der CSU, Schulz sei zu wenig deutsch und zu immigrationsfreundlich, der SPD die Gelegenheit, sich etwas vom Koalitionspartner abzugrenzen. Die Kampagne vor dem Votum zum EU-Parlament ist auch in Deutschland nicht zuletzt eine innenpolitische. Schließlich lächelt von den Wahlplakaten der Union nicht der Spitzenkandidat der Konservativen, Jean-Claude Juncker, sondern Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich keineswegs um ein Mandat in Brüssel bewirbt.

Das Bild von Martin Schulz aber ist präsent. Der 58-Jährige ist seit dem Eklat mit Berlusconi zum Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten und danach zum Präsidenten des EU-Parlaments aufgestiegen. Nun will er als Spitzenkandidat seiner Partei die Führung der EU-Kommission übernehmen. Erstmals haben die Fraktionen im europäischen Abgeordnetenhaus solche Kandidaten aufgestellt; der Wahlsieger soll sich auch um den Spitzenposten in der Brüsseler Behörde bewerben. So wünscht es sich zumindest die Volksvertretung. Er wolle der erste gewählte Kommissionspräsident werden, betont denn auch Schulz während seiner Auftritte immer wieder. Die Zeit der Abmachungen, die die Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen haben, sei vorbei, sagt er. Dass sich die Spitzenpolitiker nach der Wahl am 25. Mai tatsächlich an dies halten, ist damit freilich nicht gesagt.

Mehr Gewicht fürs Parlament

Daran, dass das EU-Parlament bei der Gesetzgebung mehr Mitsprache hat, hat Schulz jedenfalls kontinuierlich mitgearbeitet. In der Bundespolitik war er nicht tätig; der Bürgermeister von Würselen sitzt bereits seit 1994 im europäischen Abgeordnetenhaus. Der aus dem deutschen Grenzland zu Belgien und den Niederlanden stammende Buchhändler und Vater zweier Kinder ist denn auch ein bekennender Europäer. Gegen die Nationaldünkel der einzelnen Mitgliedstaaten und den "mangelnden Mut", sich zur EU zu bekennen, kann er nicht nur in seiner Muttersprache, sondern auch in fließendem Französisch, Englisch und Italienisch wettern.

Diese Kenntnisse setzt er auf seiner Wahlkampftour durch ganz Europa ein. In sein Bekenntnis zur EU mischt er aber auch Warnungen vor einem Erstarken rechter Parteien, vor nationalstaatlichen Rückschlägen für das Gemeinschaftsprojekt. Damit kann er jedoch nicht in allen Ländern punkten. Nicht in Großbritannien, das sich mehr distanzieren denn integrieren möchte. Und auch nicht unbedingt in Griechenland, wo die EU in erster Linie an den von ihr auferlegten schmerzhaften Sparprogrammen gemessen wird. Die britische Labour Party hat daher auf einen Auftritt des Spitzenkandidaten auf der Insel verzichtet, und auch ein letzter Besuch des Deutschen in Griechenland ist abgesagt worden.

Dabei kann der Sozialdemokrat durchaus das "Spardiktat" der Staats- und Regierungschefs geißeln, die etliche Maßnahmen zu mehr Haushaltsdisziplin unter Umgehung des EU-Parlaments beschlossen haben. Die Union müsse sozialer und demokratischer werden, fordert er in seinem Wahlprogramm, das er zuerst in Deutschland und danach in Belgien präsentiert hatte. Der Vorstellung in Berlin sollte die Anwesenheit des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel mehr Gewicht verleihen, jene in Brüssel sollte die moderne Seite der Partei unterstreichen.

Kredite für Arbeitsplätze

In einem zu einem Gemeinschaftsbüro umfunktionierten Industriegebäude, wo Architekten, Ingenieure oder Journalisten nicht nur Ideen austauschen, sondern auch gemeinsam ein paar Hühner im Garten füttern können, sprach Schulz von den neueren Herausforderungen für die EU. Die digitale Agenda solle eine Priorität werden, kündigte er an. Persönliche Daten, wie von Konzernen wie Facebook oder Google unter ihren Kunden gesammelt, seien mittlerweile Handelsware. Und die müsse vor Missbrauch geschützt werden. Diese Standards seien gegenüber US-Unternehmen zu verteidigen. Wie beim Datenschutz sei die Verteidigung der europäischen Vorgaben ebenso im sozialen Bereich oder beim Konsumentenschutz nötig - was nicht zuletzt Gegenstand der Debatte bei den laufenden Verhandlungen um ein Handelsabkommen mit den USA ist.

Als Hauptaufgabe der nächsten Jahre bezeichnet Schulz allerdings die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor allem müsse die Kreditklemme überwunden werden: Kleine und mittlere Betriebe müssen wieder leichter Zugang zu Krediten bekommen, die ihnen Investitionen ermöglichen und damit die Schaffung neuer Jobs. Dabei macht Schulz nur wenig aus, dass sein Konkurrent Juncker vor neuen Schulden warnt. Diese müsse die EU nun einmal akzeptieren, wenn sie in die Zukunft investieren wolle.