
"Wiener Zeitung": Brexit, Griechenland, Flüchtlingskrise: Wüssten die Gründerväter der Europäischen Union, wie es derzeit um sie steht, was würden sie wohl sagen?
Stefan Lehne: Ich glaube, sie wären überrascht und enttäuscht davon, was sich in den letzten Jahren abgespielt hat. Es war damals eine viel optimistischere Stimmung, das schlug sich auch im Text der Römischen Verträge nieder: Grenzen öffnen, Hindernisse für Handel und wirtschaftliche Beziehungen entfernen – eine optimistische Aufbruchstimmung. Inzwischen hat sie sich stark verdüstert.
Waren die 1990er der ausschlaggebende Zeitraum, in dem Reformen hätten passieren müssen?
Die geopolitischen Verhältnisse haben sich verändert. Das ursprüngliche Konzept von Jean Monnet und Robert Schuman war in der Form nicht umzusetzen. Die Osterweiterung war einer der großen strategischen Erfolge der EU und unbedingt notwendig. Es gab keine sinnvolle Alternative dazu. Dadurch hat sich aber auch die Geschäftsgrundlage geändert: Die EU ist viel größer und heterogener geworden, das ursprüngliche föderalistische Konzept einer immer enger werdenden Union lässt sich mit dieser Heterogenität nicht mehr umsetzen. Das ist sicher einer der Gründe, warum die Union jetzt in so großen Schwierigkeiten steckt. Hinzu kommt die Krise der Globalisierung – es gab große Gewinner, aber auch viele Verlierer. Die EU und viele ihrer Mitgliedstaaten haben es verabsäumt, die Verlierer mitzunehmen und ihre Verluste auszugleichen. Die enorme Ungleichheit irritiert viele Leute, es gibt eine Krise der repräsentativen Demokratie, immer weniger Vertrauen in die politischen Eliten. Das führt zum Aufstieg der Populisten, die oft keine Konzepte haben, dafür aber nostalgisch sind für die Zeit vor den römischen Verträgen, in die sie zurück wollen. Alle diese Faktoren und die Herausforderungen von Außen – Putin, Erdogan, die Flüchtlingskrise – verbinden sich zu einem sehr schwierigen Komplex.
Kann Junckers Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten die Lösung für diese Probleme sein?
Das ist keine neue Idee, denn es gibt schon in den Römischen Verträgen Ansätze für Flexibilität, vor allem, was die Beziehungen zu den Territorien außerhalb der Union betrifft. Diese Differenzierung hat es auch später gegeben – mit dem Euro, mit Schengen, es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten verstärkter Zusammenarbeit. Was vermutlich stimmt ist, dass es wegen der großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten – etwa in ihren wirtschaftlichen Kapazitäten – in Zukunft noch mehr Differenzierung und Flexibilität geben muss. Man wird im Gleichschritt nicht mehr vorankommen. Jene, die fürchten, an den Rand gedrängt zu werden, sind natürlich sehr unglücklich darüber, deshalb kommt harte Kritik aus Polen und anderen Visegrad-Staaten.
Sie fürchten, als Mitgliedstaaten zweiter Klasse übrig zu bleiben. Was passiert mit diesen Übriggebliebenen?
Die Differenzierung ist eine gute Therapie für viele Pathologien der EU von heute, aber es gibt auch gefährliche Nebenwirkungen – man muss auf die Dosierung achten. Wenn man es richtig macht und der gemeinsame Markt als verbindliche Basis erhalten bleibt, wenn Staaten später dazustoßen können, wenn das ganze also in den Rahmen einer solidarischen Integrationsentwicklung eingebettet ist, dann kann nicht viel schiefgehen. Bildet man hingegen einen harten Kern und schottet diesen ab vom Rest oder entstehen Diskriminierungen, die mit dem Binnenmarkt nicht vereinbar sind, dann kann das sehr schädlich sein. Will man etwa im Bereich der Polizei und Justiz zusammenarbeiten, dann muss man zunächst schauen, ob man nicht doch mit allen gemeinsam vorangehen kann. Kann man die bereits existierende Vertragsbestimmungen nützen, um eine Avantgarde zu bilden? Nutzt das auch nichts, dann gibt es vielleicht die Möglichkeit, außerhalb der EU-Verträge so eine verstärkte Zusammenarbeit und engere Bindungen zu gestalten. Nur, wenn nicht alle gemeinsam vorgehen können, sollte man nach einer Lösung für ein engeres Format suchen.
Nun ist es aber häufig nicht möglich, Kompromisse zu finden. Viele sehen hier den Rat der Staats- und Regierungschefs als Problem: Er sei zu mächtig, verhindere eine engere Union. Ist es denkbar, den Rat soweit zu entmachten, dass Entscheidungen schneller und effizienter umgesetzt werden können?
Vorstellbar ist alles. Das war auch das ursprüngliche Konzept: Dass sich aus der Europäischen Kommission eine europäische Regierung entwickelt und der Rat so etwas wie eine zweite Kammer des EU-Parlaments wird. Dieses Konzept ist nicht realistisch unter den gegebenen Bedingungen: Die Union ist zu groß und zu unterschiedlich geworden, die Bereitschaft, in diese Richtung voranzugehen, besteht nicht. Das sind föderalistische Träume, die eine kleine Minderheit von sehr guten Menschen weiterverfolgt. Umsetzen lässt es sich nicht.
Für die Umsetzung bräuchte man wohl auch wieder Einstimmigkeit im Rat...
Eben. Das föderale Modell ist abstrakt eine gute Idee, aber nicht umsetzbar. Das kann man mit Orbán und Kaczynski nicht machen, aber auch nicht mit jedem französischen Staatspräsidenten. Der föderale Traum ist ausgeträumt, der Rat ist nicht ersetzbar, sondern wichtiger geworden. Die Kommission hat in den letzten Jahren an Macht eingebüßt. Mit dieser Realität muss man sich abfinden und sollte das Beste daraus machen.