Aix-en-Provence. In Aix-en-Provence sind kurz vor Festival-Beginn die Würfel für die Nachfolge von Bernard Foccroulle gefallen. Nach 30 Jahren in Amsterdam wird der Langzeitintendant Pierre Audi ab September 2018 übernehmen. Damit ist klar: Der südfranzösische Festspielsommer bleibt ein wichtiger Teil des europäischen Opernkalenders. Und Foccroulle kann noch mit zwei Jahrgängen glänzen. Heuer ist ihm das schon gelungen. Die großen Auftakt-Premieren fügen sich diesmal sogar so zu einem Ganzen, wie das selbst den ambitioniertesten Häusern mit Dramaturgenstab nur selten gelingt.
Dabei könnten die Stücke verschiedener nicht sein. Sicher passen Mozart, Händel und Debussy per se in die Provence - besser jedenfalls als Wagner. Aber dass es mit "Così fan tutte", dem Oratorium über den "Triumph von Wahrheit und Erkenntnis" sowie "Pelléas et Mélisande" gelingt, die Abgründe von scheiternder Liebe und brodelnden Obsessionen so komplementär aus verschiedenen Blickwinkeln auf einem szenischen Niveau zu behandeln, das sich in aller Opulenz nicht einfach dem Unterhaltungsbedürfnis der Festspielgemeinde anbiedert, zählt zu den Glücksfällen südfranzösischer Festspielgeschichte.
Düstere "Così"
Musikalisch garantierten das Freiburger Barockorchester (mit Louis Langrée), Le Concert dAstrée (Emmanuelle Haïm), das Philharmonia Orchestra (Esa-Pekka Salonen) und überzeugende Protagonisten durchwegs Festspielniveau. Wobei auch noch passendes Wetter und die Abwesenheit von Streiks dazukommen. Die neuen Sicherheitskontrollen (fast) wie am Flughafen akzeptiert hier jeder.
Unterm nächtlichen Sternenhimmel im Théâtre de lArchevêché reibt man sich anfangs die Augen. Das Set sieht eher nach "Entführung" aus, und vom Grammophon-Gedudel kommt auch keine Erleuchtung. Doch dann gibts an einer atmosphärischen Straßenecke im Abessinien Mitte der 30er Jahre zur Ouvertüre Szenen aus dem Leben der Besatzungstruppen des Duce, die sich den Einheimischen gegenüber wie Kolonialherren mit Sklavenhaltermentalität aufführen.
Was folgt, ist die wohl schwärzeste "Così", die es bisher gab. Und das nicht nur wegen der Hautfarbe des gekonnt integrierten Dutzends Zusatzpersonal. Der vom Film kommende Regisseur Christophe Honoré spielt neben der Verunsicherung der Gefühle zweier Paare auch die Ambivalenz jener Begierden durch, die sich auf das Tabuisierte richten (sprich: die abhängigen Afrikaner). Alles vor dem Hintergrund einer Melange aus patriarchalischen und kolonialen Macht-Strukturen. Hier "bedienen" sich die weißen Männer ebenso wie die weißen Frauen nach Gier und Laune. Die Frauen (besonders Despina) bekommen es aber auch mit der Macho-Seite der Eroberten zu tun. Bei dieser Mozart-Premiere verkleiden sich die beiden Treue-Tester tatsächlich (als Schwarze). So knistert es weit mehr und wird viel handgreiflicher als sonst. Es geht auch weit weniger glimpflich aus - zumindest für Fiordiligi, die den Betrug und die Bloßstellung zu früh durchschaut und sich am Ende einen Gewehrlauf an den Kopf hält.
Am nächsten Abend folgt das optische Kontrastprogramm: Für Händels "Il Trionfo del Tempo e del Disinganno" hat Małgorzata Szczesniak einen modernen Kinosaal auf die Bühne gebaut und durch einen gläsernen Mittelgang geteilt. Hier entfaltet Krzysztof Warlikowski den Diskurs zwischen der personifizierten Zeit und Erkenntnis, quasi als Exponenten der belehrenden Elterngeneration, dem verlockenden Vergnügen und der verletzlichen Schönheit: ein in sich geschlossener und stringenter Generationenkonflikt, von dem auch Emmanuelle Haïm am Pult jeden Nummernzirkus fernhält. Den exquisiten Protagonisten ist ein (Bewegungs-)Chor von 20 jungen, kunterbunt ausstaffierten Statisten beigefügt, die Zeugen und selbst Teil des Diskurses, der Ausschweifungen und Abstürze sind. Sie rücken an wie zur Castingshow oder verteilen sich im Kinosaal, wo ihnen Schönheit und Vergnügen exemplarisch vorgegaukelt werden. Am Ende ist die Schönheit im Brautkleid und mit verlaufener Schminke vom Bräutigam verlassen und bricht an der Tafel der Eltern zusammen. Als schaler, belehrender Triumph derer, die es schon immer gewusst haben.
Mélisande im Alptraumschloss
Für Katie Mitchell schließlich bleibt im Grand Théâtre de Provence der französische (Anti-) Wagner Debussy vorbehalten, den Salonen mit sinnlicher Glut und dramatischem Furor auch so klingen lässt - und zu dem Lizzie Clachan wieder ihren mehrgeschoßigen, schnell geschnittenen Verwandlungszauber entfesselt. Diesmal als Alptraumschloss. Mit Wendeltreppe im Turm, verfallenem Schwimmbad, ins Schlafzimmer dringender Natur - ein Bühnenwunder! Erzählt wird so konsequent aus der Perspektive von Mélisande, dass diese sich und ihre Obsessionen, samt der Verlagerung ihres Begehrens vom Ehemann zu dessen Bruder, selbst beobachtet. Barbara Hannigan erfühlt diese gespaltene Figur mit jeder Bewegung und liefert die wohl beeindruckendste Einzelleistung dieses Premium-Festspieljahrgangs.
Im Théâtre du Jeu de Paume schließlich, exemplarisch für die internationale Vernetzung der Festspiel-Aktivitäten, die arabisch französische Kammeroper "Kalîla wa Dimna". Ihr palästinensischer Komponist Moneim Adwan wirkt selbst mit. Sie erzählt von den Gefahren, wenn sich Kunst zu sehr der Macht andient, im Stile einer orientalischen Fabel. Ihren Reiz bezieht diese Uraufführung aus der Exotik ihres dezidiert außereuropäischen Zugriffs.