Regentropfen rinnen an den beschlagenen Fensterscheiben des kleinen italienischen Restaurants Assaporare, nahe dem Place de la Bastille, herab. Im Inneren verbreitet gedämpftes Licht eine gemütliche Atmosphäre. Mit knapp zehn Journalisten aus Frankreich und dem Ausland hat sich Claude-Emmanuel Triomphe hier verabredet. Die Kraft, den Abend des 13. November 2015 für jeden einzeln noch einmal zu durchleben habe er nicht, erklärt er die kleine Zusammenkunft.
Mit den Anschlägen der Terrormiliz IS, bei denen in Paris vor einem Jahr 130 Menschen starben, begann für den 58-Jährigen sein "zweites Leben". Im Leben davor war der zierliche Franzose ein erfolgreicher Geschäftsmann, ehemaliger Beamter im Ministerium für Arbeit, Gründer und Vorsitzender zweier Think Tanks, begeisterter Wanderer und Skifahrer. Doch der 13. November 2015 hat für ihn vieles verändert.
"Wussten Sie, dass der 13. November der Tag der Freundlichkeit ist?", hatte ihn ein Kollege an diesem Tag gefragt. Triomphe wusste das nicht. Genauso wenig wusste er damals, dass ihm diese beiläufige Bemerkung durch die grausame Ironie der darauf folgenden Ereignisse noch lange im Gedächtnis bleiben würde.
"Ich hatte eigentlich nicht vor, auszugehen"
Was er an jenem Abend erlebte, beschreibt er heute als ein "Zusammenspiel der Zufälle". "Ich hatte eigentlich nicht vor, auszugehen", erinnert er sich. Mit einem Spaziergang am Canal Saint-Martin wollte er seinen Arbeitstag ausklingen lassen. Am Place de la République fragte ihn ein junger Amerikaner nach dem Weg. "Ich bin selbst viel gereist und weiß, wie es ist, neu in einer Stadt zu sein. Also bot ich ihm an, noch ein Bier trinken zu gehen", erzählt Triomphe. Die beiden betreten das Lokal "La Bonne Bière" in der Nähe des Kanals. Der 58-Jährige nimmt mit seinem neuen Bekannten zuerst auf der Terrasse Platz, ändert dann seine Meinung und lässt sich an einem Fensterplatz im Inneren der Bar nieder. Wenig später wird ihm diese Entscheidung das Leben retten.
Gegen 21:30 Uhr eröffnen Mitglieder des IS das Feuer auf fünf Bars und Restaurants der französischen Hauptstadt, darunter "La Bonne Bière". Kurz darauf dringen drei Terroristen in den Konzertsaal Bataclan ein, nehmen die Besucher als Geisel, schießen in die Menge und löschen 89 Menschenleben aus. Auf der Terrasse von "La Bonne Bière" töten die Angreifer fünf Menschen.
"Mir war gleich klar, dass es sich um einen Anschlag handelte"
Als die Schüsse fallen, begreift Triomphe den Ernst der Lage sofort: "Mir war gleich klar, dass es sich um einen Anschlag handelte", erinnert er sich. Er versucht, sich zu verstecken, doch die Kugeln kommen zu schnell. Eine, vielleicht sogar zwei – darüber sind sich seine Ärzte uneinig - treffen ihn an der Hüfte, verletzen seinen Ischiasnerv und den Darm. Eine weitere trifft ihn am rechten Arm. Am Bein und am Knöchel bekommt er Kugelsplitter ab. "Dass ich überlebt habe, verdanke ich einer Ärztin aus Italien", ist er überzeugt. Die Frau, ebenfalls Kundin in "La Bonne Bière", leistete sofort erste Hilfe.
Noch vor Ort gelang es Triomphe, eine Freundin zu verständigen. Auch auf dem Weg in die Notaufnahme blieb er bei Bewusstsein. Einen Tag später wurde er operiert und verlor ein Stück seines Darms. Die ersten sechs Wochen im Krankenhaus verbrachte er ausschließlich liegend. In dieser Zeit kam ihn der junge Amerikaner besuchen. Dieser war bei dem Angriff ebenfalls verletzt worden, konnte sich aber bald wieder fortbewegen. Die beiden Männer haben bis heute Kontakt.
Ende Dezember wurde Triomphe zur Rehabilitation ins Militärkrankenhaus Percy verlegt. Dort konnte er sich zum ersten Mal seit dem Anschlag wieder aufsetzen und einen Rollstuhl benutzen. Nach und nach musste er das Gehen wieder erlernen: "Ein komisches Gefühl, wenn man über 50 Jahre alt ist", sagt er. Erst Ende März konnte er das Krankenhaus verlassen.
Mit den Folgen der Verletzungen leben müssen
Heute, ein Jahr nach den Anschlägen, bereitet dem 58-Jährigen das Gehen auf ebenen Wegen kaum mehr Schwierigkeiten. Aber mit den Folgen der Verletzung des Ischiasnervs hat er zu kämpfen. Teile seines rechten Fußes sind gelähmt. Dem Wandern, seiner Leidenschaft, kann er nicht mehr nachgehen. "Und auch mein Paar Ski wird wohl in einer Hütte in den Alpen verrosten", sagt er mit einem Lächeln, so, als hätte er sich damit abgefunden.
Was passiert ist sieht er als "merveilleux malheur" – ein wunderbares Unglück. Denn sein Leben hat sich dadurch verändert. Heute sehe er die Dinge gelassener: "Ich dachte, ich würde sterben. Da ordnet man seine Prioritäten neu". Als ihn sein Neffe im Februar 2016 fragte, was er von der umstrittenen Arbeitsmarktreform halte, gegen die die Menschen im ganzen Land monatelang auf die Straße gingen, kostete das Triomphe nur ein Schulterzucken: "In meinem früheren Leben hätte ich 50 Argumente für und gegen die Reform parat gehabt. Heute erscheint mir die Frage sekundär."
In den letzten Monaten ist er öfter mit dem Taxi und dem Rad an "La Bonne Bière" vorbeigefahren. Die Bar hat seit Anfang Dezember 2015 wieder geöffnet. Einmal stand er kurz davor hineinzugehen. "Doch ich konnte nicht. In meinem Körper hat sich etwas dagegen gesperrt", erzählt er.
Eine Frage beschäftigt den 58-Jährigen seit den Anschlägen besonders: "Warum bringt Frankreich so viele Dschihadisten hervor?" Für ihn steht fest: "Wir sind für dieses Problem mitverantwortlich. Viele Menschen erfahren hier soziale Ausgrenzung. Es gibt keine Chancengleichheit."
Mit seiner neuen Stelle, die er am 14. November antreten wird, will Triomphe dieser Entwicklung entgegenwirken. Für das Ministerium für Jugend und Sport wird er in einem kleinen Team an einer Reform des "service civique" – Frankreichs freiwilligem Zivildienst – arbeiten. "So will ich jungen Menschen die Möglichkeit geben, etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Sie sollen sich ausprobieren und ihre Berufswünsche verwirklichen können", hofft er.
Der neue Job hat für Triomphe einen zusätzlichen Bonus: Er kann ihn von Marseille aus ausüben. In der französischen Hauptstadt will er seine Zelte abbrechen. "Aber ich verlasse Paris nicht, weil ich mich hier nicht mehr sicher fühle", betont er. Dieses Kapitel sei für ihn einfach abgeschlossen.