Wien. Das Gebimmel der Straßenbahn ist ohrenbetäubend. Im letzten Moment stoppt das Auto mit quietschenden Reifen. Tauben flattern hoch. Schaulustige bleiben erwartungsvoll stehen. Doch der Fahrer des O-Wagens schüttelt nur verächtlich den Kopf. Gemächlich rollt er in Richtung Franzensbrücke davon. Hier, wo nicht weniger als sechs Straßenzüge sternförmig aufeinandertreffen, passiert ihm das fast täglich. Er kennt die Gefahren, weiß worauf er zu achten hat. Für ihn ist der Platz nicht viel mehr als eine etwas unübersichtliche Verkehrsfläche. Eine Haltestelle. Eine Kreuzung unter vielen. Damit tut er ihm Unrecht.
Von schäbig zu belebt
Denn der Radetzkyplatz hat sich still und heimlich vom schäbigen Verkehrsknotenpunkt zum belebten Zentrum des Weißgerberviertels gemausert. Neuerdings trifft man sich hier, trinkt Kaffee, geht spazieren, plaudert mit den Nachbarn oder hängt mit seinem Mitbewohner einfach nur auf einer der Parkbänke ab. Diese Ecke der Stadt hatte wohl niemand unter Verdacht, cool zu werden.

Doch nun herrscht hier ansteckende urbane Betriebsamkeit - der neuralgischen Lage zum Trotz. Wo sich der nördlichste Zipfel des 3. Bezirks zwischen Donaukanal und Wienfluss zu einer Halbinsel formt, liegt der Radetzkyplatz im Schatten der Stadtbahnbögen. Sie zerschneiden ihn zu einem Halbkreis. Die Gäste der Schnellbahn rattern auf halber Höhe an den repräsentativen, dreistöckigen Gründerzeithäusern vorbei. Darunter schlägt die Radetzkystraße eine 45-Grad-Biegung und kreuzt die Löwengasse - eine andere, stark frequentierte Ader des Viertels.
Im Minutentakt queren die Straßenbahnen der Linie 1 und O das Grätzel. Vielleicht ist es genau dieser Trubel, der dem Platz den Flair des Urbanen verleiht. Er ist keine Fußgänger- oder gar Begegnungszone. Anders als der angesagte Yppenplatz im 16. Bezirk wird er nicht als Aushängeschild für geglückte Aufwertung und multikulturelles Zusammenleben vermarktet. Und dennoch erlebte er in den vergangenen Jahren einen ähnlichen Aufschwung.
Aus Bräunungsstudios und Garagen wurden gemütliche Caféhäuser und Restaurants. Neue Galerien und hippe Lokale etablierten sich neben alteingesessenen Gasthäusern und Familienbetrieben. Dabei geriet eine ausgewogene Branchenmischung nicht aus dem Gleichgewicht. Einzelhandel und gehobene Gastronomie finden genauso Platz wie eigenwillige Trödler, Zahnärzte oder fadenscheinige Nachtclubs. Alle scheinen zufrieden.

Das spiegelt sich auch im Ergebnis der Wien-Wahl vom vergangenen Oktober. In keinem der Sprengel des Viertels gab es auffällige Ausreißer der FPÖ. Mit satten 40 Prozent wurden die SPÖ und Bürgermeister Häupl vielmehr bestätigt. "Ich hab auch den Häupl gewählt, wieso auch nicht?", sagt Willi. Der Mitvierziger lehnt über einer dampfenden Käsekrainer. Ein Dosenbier in der rechten, den Stummel einer Marlboro in der linken Hand, einen Schmäh auf den Lippen. So kennt man ihn am Würstelstand in der Mitte des Platzes. Während er genüsslich in die "Eitrige" beißt, laben sich hektische Geschäftsleute an Melanzani-Halloumi-Röllchen und naturtrübem Birnensaft im Café gegenüber. Eine Joggerin hechelt in Richtung Donaukanal vorbei. Vor dem Renault-Händler in einem der Stadtbahnbögen mustert ein Paar Gebrauchtwagen. "Brauchst Hilfe?", ruft Willi einem Mann zu, der vergeblich versucht, Luft in den Vorderreifen seines Rennrades zu pumpen. Autos hupen, Ampeln schalten um, die Schnellbahn surrt über den Köpfen hinweg. Kinder jagen sich auf Tretrollern, eine ältere Damen zieht ihren beladen Einkaufstrolley über das Kopfsteinpflaster.
Müsste man ein Stadtmotiv für ein Kinderbuch zeichnen, würde man wohl genau diese Szene wählen. Denn nirgends sonst kommt die Stadt dem Ruf einer Großstadt näher als hier, nirgends sonst ist sie vielfältiger. Das war nicht immer so. Jahrzehntelang schlummerte das Grätzel unbemerkt vor sich hin. Hier wohnte man, mehr nicht. Die Anrainer verbrachten ihre Freizeit lieber jenseits des Donaukanals im Prater oder schlenderten in die Innenstadt. Kunstsinnige Touristen aus der nahegelegenen City verirrten sich höchsten auf dem Weg zum Hundertwasserhaus hierher.
"Als ich zur Schule ging, war das eine Gegend, von dem man eigentlich nur weg wollte", sagt Thomas Müller von der Initiative "Buntes Weißgerberviertel". Der 36-Jährige besuchte in den 1980er Jahren die Volksschule am angrenzenden Kolonitzplatz. "Damals war das eine graue, tote Fläche." Trotzdem wurde in dieser Zeit der Grundstein für die heutige Attraktivität des Ortes gelegt. Nach einem tödlichen Verkehrsunfall gestaltete die Stadt den Platz um. Die Obere und Untere Viaduktgasse wurden auf der Höhe der Unterführung zum Radetzkyplatz verkehrsberuhigt. Man ließ Parkplätze auf, pflanzte Bäume, stellte Bänke auf. Eine große freie Fläche nur für Fußgänger und Passanten entstand.
Immer mehr Szenelokale
Erhard Auer erkannte als erster das Potenzial des Platzes. Mitte der Nullerjahre verwandelte er ein heruntergekommenes Weinhaus in das Gasthaus Wild. Das Restaurant brach mit der Dominanz der Handyshops und Nagelstudios. Schnell machte sich die Küche einen Namen. Heute kommen die Gäste aus ganz Wien, um einen Kalbstafelspitz im Wild zu essen. In den Sommermonaten ist der begrünte Schanigarten gesteckt voll. Eigentlich verwunderlich, dass es zehn Jahre dauern sollte, bis weitere Gastronomen auf den Zug aufsprangen.