Ein gigantischer Arm bewegt sich summend durch die Luft. Wie ein schlaksiger Riese hebt der Kran Schalwände mühelos auf den obersten Stock eines Rohbaus. Drahtseile schlagen im Wind gegen seine gelben Metallstreben. Die Arbeiter greifen nach den herabschwebenden Bauelementen über ihren Köpfen und manövrieren sie an ihren Bestimmungsort. Ein Mädchen im Kindergartenalter zeigt aufgeregt in Richtung Baustelle. "Die Männer betonieren die Wände", erklärt die Mutter knapp und zieht es am Jackenärmel weiter. Sie verschwinden im Eingang des funkelnagelneuen Wohnhauses daneben.
Hier, im sogenannten Sonnwendviertel im 10. Bezirk, dröhnen schon seit Jahren die Schremmhämmer und Mischmaschinen. In mehreren Bauabschnitten wird ein völlig neuer Stadtteil aus dem Boden gestampft. Nach der Schleifung des alten Frachtenbahnhofs begannen 2012 auf dem freiwerdenden Gelände die Arbeiten, 2013 zogen die ersten Mieter ein, bis spätesten 2020 soll das Stadtquartier fertig sein. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Auf Plänen und 3-D-Animationen schmiegt sich das Sonnwendviertel in Richtung Nordosten geschmeidig an die Gleiskörper des neuen Hauptbahnhofes, im Süden begrenzt es die Gudrunstraße, im Westen die sechsspurige Sonnwendgasse. In der Mitte liegt eine ausufernde Parkanlage in Form eines riesigen Bumerangs. Ein Bildungscampus mit Schulen und Kindergärten soll für kurze Wege der Bewohner sorgen. "Schlussendlich werden hier 4.700 Wohnungen rund 13.000 Menschen Quartier bieten. 2.000 sind bereits fertig", sagt Hans-Christian Heintschel, Projektsprecher der Stadt Wien für das Sonnwendviertel.
Teil eines riesigen Baubooms
Die 50 Fußballfelder große Fläche ist - neben der Seestadt Aspern im 22. Bezirk und dem Areal des Nordbahnhofes im 2. Bezirk - eines der wichtigsten Entwicklungsgebiete der Stadt. In einem noch nie dagewesenen Bauboom sollen die neuen Viertel dringend benötigten Wohnraum generieren. Sie sind Megaprojekte, Städte inmitten der Stadt.
Bei Bauvorhaben dieser Größenordnung drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob sie schlussendlich tatsächlich funktionieren oder - wie die vielen Negativbeispiele der 1970er-Jahre - zum Ghetto verkommen. Denn anders als das klassische Grätzel verfügen sie über keinerlei gewachsene Struktur. Sie kommen aus der Retorte, wurden auf dem Reissbrett entworfen, bis ins kleinste Detail durchgeplant.
Die Stadt selbst preist das Viertel als städtebauliche Perle. Von hoher Lebensqualität und Wohnzufriedenheit ist die Rede. Durch eine facettenreiche Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen würde hier ein lebendiger Stadtteil entstehen. Die weitläufigen Grünflächen und großzügigen Freiräume seien ideal für Kinder und Familien. Liest man die Broschüren der Bauträger wird der Eindruck eines vielfältigen urbanen Grätzels mit modernen Wohnanlagen vermittelt.
Viele Farben, wenig Abwechslung
Ein Spaziergang durch den halbfertigen Stadtteil zeigt jedoch ein anderes Bild. In vorderster Reihe, hin zum Bahnhof, ragen Hotel- und Bürotürme in den Himmel. Dahinter liegen die ersten drei bewohnten Häuserblocks des Sonnwendviertels. Wie gerendert stehen die verschachtelten Gebäude nebeneinander. Sie wollen nicht so recht zusammenpassen. Ein cremefarbenes Wohnhaus mit durchsichtigen Glasgeländern steht einer gelbgrünen Balkonfront gegenüber. Eine Straße weiter blitzen die knallroten Fassaden dreier sechsstöckiger Häuser hervor. Sie sind mit einer gelben Fußgängerbrücke miteinander verbunden. Hier prallen architektonische Stile und Farben erbarmungslos aufeinander. In einem Innenhof toben Kinder auf einem Spielplatz. Unmotiviert ragt ein Lüftungsschacht direkt neben einer Wippschaukel hervor, Zäune zerschneiden die Wiese.
"Das Problem liegt darin, dass ein Bauträger ein Baufeld bekommt und ein anderer Bauträger das daneben. Es wird ohne viel zu kommunizieren nebeneinander gebaut. Darum sehen die Grundstücke oft so komisch aus", sagte Christoph Laimer, Herausgeber des Magazins "dérive – Zeitschrift für Stadtforschung", einmal im Interview mit der "Wiener Zeitung". Auch andere Stadtforscher kritisieren die Planungskultur im Quartier. "Die Grünhöfe im Viertel sind vielfach Restflächen, geprägt von den Lüftungsschächten der Tiefgaragen. Es gibt auch kaum Bäume", sagt der Stadtplaner Reinhard Seiß.
So viele Wohnungen wie möglich
Nicht weniger als sieben Bauträger zogen ihre Häuser auf den ersten drei Baufeldern des Viertels hoch. Es ist eine Mischung aus gefördertem, frei finanziertem und privatem Wohnbau. In einem einstufigen Wettbewerb wurden sie vom Fonds für Wohnbau und Stadterneuerung ermittelt. Ein Masterplan für das gesamte Areal um den Hauptbahnhof sollte 2004 die Strukturen für die Entwicklung des neuen Stadtteils festlegen. "Das Problem ist, dass dem Masterplan keine wirkliche urbanistische Überlegung zugrunde lag. Hauptsächlich ging es darum, durch dichte Bebauung möglichst viel Kapital zur Finanzierung des Bahnhofs zu schlagen", sagt Seiß.
Ziel war es also, so viele Wohnungen wie möglich unter zu bringen. Dies wird vor allem in den Erdgeschosszonen ersichtlich. Anders als im bewährten Gründerzeithaus, in dem unten Geschäfte, darüber Büros und oben die Wohnungen liegen, wird im Sonnwendviertel auch in der Sockelzone gewohnt. Die propagierte vielfältige Durchmischung sucht man hier vergeblich. Die Straßen wirken trostlos und verwaist. "Die bisherigen Bauten sind monofunktional. In den Erdgeschossen gibt es weder Bäcker noch Apotheke oder Trafik. So entsteht keine Belebung des öffentlichen Raums", sagt Seiß. "Es ist weniger ein Stadtteil als eine reine Wohnsiedlung." Tatsächlich prägen Fenster mit zugezogenen Vorhängen, Müll- und Fahrradräume, sowie die Ein- und Ausfahrten von Tiefgaragen das Straßenbild.
Den vielen Garagen zum Trotz, gelang es nicht, die Autos von der Straße zu bekommen. Wie aufgefädelt stehen sie rechts und links der Fahrbahn. Spricht man mit den Bewohnern, so scheint auch dies ihre größte Kritik zu sein. "Wenn wir Gäste haben, suchen sie meist lange, bis sie eine Parkplatz finden", sagt Roland. Der 35-Jährige wohnt seit einem Jahr mit seiner Frau und einem Kind im Viertel. Sonst sei er aber zufrieden. "Die Gemeinschaftseinrichtungen in unserem Haus sind super. Im Innenhof gibt es Spielmöglichkeiten für die Kinder, im Keller Sauna, Fitnessraum und Waschküche. Im Haus daneben ist sogar ein Schwimmbad am Dach", sagt er.
Kinderwagen, Tretroller und Jungfamilien
Menschen in seinem Alter und seiner Lebenssituation sind im Sonnwendviertel in der Überzahl. Mütter schieben Kinderwägen durch die Innenhöfe, Tretroller lehnen an der Hauswand neben einem Spielplatz. Die Gegend zieht Jungfamilien an. Auch Brigitte wohnt mit ihrem Sohn seit vergangen November hier. "Unsere Wohnung befindet sich direkt neben dem Bildungscampus. Mein Sohn wird dort bald die Neue Mittelschule besuchen. Es gibt überhaupt viele Kinder hier. Sie spielen im Hof und an den Wochenenden gibt es oft Kindergeburtstagspartys. Ich kann es kaum erwarten, dass der Helmut-Zilk-Park eröffnet."
Der sieben Hektar große Park soll so etwas wie das Herzstück des Viertels werden. Noch ist er eine riesige Fläche aus Erde und Matsch, doch schon im Juli wird der Großteil der Bevölkerung freigegeben. Bäume und Sträucher wurden bereits gepflanzt. Arbeiter schrauben an einem Klettergerüst. Kinder flitzen mit ihren Tretrollern über die asphaltierten Wege, die den Park schon jetzt durchkreuzen. Obwohl die Grünfläche an die Häuser von privaten Investoren und Immobilienentwicklern angrenzt, wurde sie nicht – wie in anderen Städten durchaus üblich – von ihnen finanziert, sondern zur Gänze von der Stadt bezahlt. Bleibt zu hoffen, dass sich Brigittes Wünsche erfüllen und er die eher missglückten Freiflächen zwischen den Wohnanlagen kompensieren kann.
Wien eine abgeschottete Insel
An seinen Rändern stößt das Viertel auf die alte Bausubstanz des 10. Bezirks, mit der Fußgängerzone in der Favoritenstraße. Doch die breite Sonnwendgasse und die stark befahrene Gudrunstraße wirken als Barriere. Auch in Richtung 4. Bezirk trennt es ein breites Band aus Gleiskörpern und Gürtel vom Rest der Stadt ab. Eine Öffnung des Areals ist durch die Neugestaltung der Bahnhofs-Umgebung nicht gelungen. Fast vergeblich versucht man als Fußgänger die mehrspurigen Straßen zu überqueren und durch dunkle Unterführungen auf die andere Seite des Gürtels zu gelangen. Dabei waren die Grundvoraussetzungen denkbar günstig. "Die Lage am Rande des 10. Bezirks ist ein Filetstück der Stadt", sagt Seiß. "Die Verkehrsanbindung mit dem Bahnhof und der U-Bahn-Linie 1 in unmittelbarer Nähe könnte kaum besser sein. Außerdem ist das Viertel von attraktiven Grünflächen wie dem Belvedere- und dem Schweizergarten umgeben. Zur Innenstadt sind es gerade einmal zwei Kilometer".
Trotzdem wirkt das Sonnwendviertel wie eine Insel. Ein abgeschotteter Stadtteil mit Massenwohnbauten - eigentlich der perfekte Nährboden für die Entstehung eines Ghettos. Doch noch ist es zu früh, pessimistische Zukunftsvisionen zu malen. Denn noch steckt das Sonnwendviertel inmitten einer Metamorphose. Während an manchen Plätzen Kreissägen tönen, schreien an anderen spielende Kinder. Neubau trifft auf Baustelle und Baustelle auf Brachland. Und auf dem Brachland liegt die Hoffnung.
Neue Pläne lassen hoffen
Denn die Planungen der noch unbebauten Flächen am südöstlichen Spitz des Sonnwendviertels stimmen optimistisch. Hier hat der Fußgänger Vorrang. Lediglich eine zweispurige Straße ist für den motorisierten Verkehr vorgesehen. Auch auf Belebung der Erdgeschosszonen wurde mehr Wert gelegt. In den sogenannten Quartiershäusern sollen die Sockelzonen wesentlich höher gebaut und schon vor der Fertigstellung für kleinteiligere, abwechslungsreichere und vor allem öffentlichere Nutzungen fixiert werden.
Im Sonnwendviertel wurden viele Chancen, ein belebtes urbanes Grätzel zu schaffen, verspielt. Bleibt zu hoffen, dass mit der Eröffnung des Helmut-Zilk-Parks und der Fertigstellung der letzten, durchaus vielversprechenden, Bauten das Ruder herumgerissen werden kann. Damit das Stadtquartier auch noch in Jahren seine Bewohner begeistert. Zumindest eines ist sicher: Der Arm des schlaksigen Riesen wird in den nächsten Jahren noch häufig surrend durch die Luft schweben - und zumindest Kinder begeistern.