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Ein Geniestreich mit immer schwächerer Rechtsdurchsetzung

Von Wilfried Ludwig Weh

© adobe.stock/hkama

Begründete Beschwerden wegen massivster Menschenrechtsverletzungen werden mitunter von einem Einzelrichter ohne Begründung willkürlich zurückgewiesen.


In seinem Gastkommentar vom 21. August 2020 beklagte Professor Peter Hilpold die zunehmende Unwirksamkeit des Rechtsschutzmechanismus des Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser Befund ist zutreffend. Als Rechtsanwalt, der seit 40 Jahren regelmäßig vor dem EGMR auftritt, muss ich tatsächlich eine immer restriktivere Zulassungspraxis beklagen. Derzeit unterschreitet die Zulassungsquote das Maß des Erträglichen weit, auch begründete Beschwerden wegen massivster Menschenrechtsverletzungen werden von einem Einzelrichter ohne Begründung willkürlich zurückgewiesen.

Das müsste nicht sein, denn inhaltlich ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in geradezu genialer Weise aktuell. Es gibt fast kein Problem der Menschenrechte, das man nicht mit der EMRK lösen könnte. Das ist dem EGMR geschuldet, der immer vom "lebenden Instrument" der EMRK gesprochen und die Grundrechte laufend aktualisiert hat. Es liegt also nicht an der EMRK selbst, sondern an deren Anwendung, dass in österreichischen Fachkreisen allgemeine Frustration über die Straßburger Judikatur eingesetzt hat.

Als der Eiserne Vorhang in Europa hochgegangen ist, wollte man in Straßburg, ohne das formell auszusprechen, das System in den neuen Mitgliedstaaten umsetzen, ohne gleich die vollen Standards der alten Mitgliedstaaten zu fordern - quasi also eine Menschenrechtsjudikatur der zwei Geschwindigkeiten durchziehen. Inzwischen scheint aber leider der niedrigere Standard zur Norm geworden zu sein. Dabei verdanken wichtige Einrichtungen wie die Verwaltungsgerichte in Österreich ihre Existenz weitgehend der Straßburger Judikatur, und auch im Strafrecht dürfte der EGMR noch einigen Einfluss vor allem präventiver Natur haben. Wenn aber trotz der verbreiteten Missstände im Strafrecht und im Fremden- und Asylrecht nicht mehr als fünf Urteile zu Österreich pro Jahr ergangen sind, dann kann man nur noch von Rechtsverweigerung sprechen.

Unbefriedigende Schadenersatzzusprüche

Innerstaatlich war lange Zeit ein hoher Respekt vor der Straßburger Judikatur zu beobachten, der etwa um die Jahrtausendwende langsam zu schwinden begonnen hat. Ein Grund dafür könnten die seit jeher unbefriedigenden Schadenersatzzusprüche sein, denn der EGMR hat nur in ganz seltenen Einzelfällen wirklich befriedigende Schadenersatzbeträge zugesprochen. Wenn Russland nach einer Verurteilung erklärt, auch 10.000 andere Strafgefangene seien in der gleichen Lage wie ein erfolgreicher Beschwerdeführer, führt sich das System ad absurdum, da wäre die Gretchenfrage der weiteren Mitgliedschaft dieses Mitgliedstaates zu stellen.

Es muss aber nicht unbedingt ein Schadensersatzanspruch sein. Wenn eine Verurteilung in Straßburg zur Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens führt, wie dies in Österreich für bestimmte Verstöße gegen das faire Verfahren im Strafrecht möglich ist, ist dem Rechtsschutz auch gedient.

Was kann die Antwort auf die Verwässerung der Menschenrechtsgarantien sein? Zum einen könnte naheliegen, den österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) nach dem System der Bundesrepublik Deutschlands, Spaniens, Italiens oder Liechtensteins den beiden anderen Gerichtshöfen nachzuschalten. Die damit verbundenen Überlegungen können allerdings aus Platzgründen nicht dargestellt werden.

Professor Hilpold schlägt die Einführung einer Grundrechtsbeschwerde an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg vor. Im Gegensatz zum Straßburger Menschenrechtssystem verfügt der EuGH über ausreichend Mittel und Kapazitäten, um diese Aufgabe vom Straßburger Gerichtshof zu übernehmen. Aus kompetenztechnischen Gründen kann dies allerdings wohl nur dort möglich sein, wo der Fall einen Bezug zum Unionsrecht aufweist, zum Beispiel wegen einer Problemstellung nach den Grundfreiheiten oder nach Sekundärrecht.

Wirksame einstweilige Maßnahmen fehlen

Dass dadurch eine gewisse Konkurrenzsituation in der Rechtsauslegung entstünde, ist kein Argument, denn eine solche Diskrepanz besteht bereits, muss doch der EuGH die Europäische Grundrechte-Charta (EUGRC) anwenden, und diese verweist wiederum eins zu eins auf die EMRK. Da die EUGRC einige zusätzliche Grundrechte enthält, würde auch noch eine gewisse Erweiterung der Grundrechte eintreten.

Wichtig wäre auch eine Beseitigung der Achilles-Ferse des österreichischen Rechts, nämlich des Fehlens wirksamer einstweiliger Maßnahmen. Wenn ein Bundeskanzler erklären kann, bis der VfGH entschieden habe, werde das Gesetz ohnehin schon weggefallen sein, fehlt es offenkundig an der wirksamen schnellen Grundrechtsdurchsetzung im Inland. Der Ausbau des einstweiligen Rechtsschutzes in Österreich ist dringend vonnöten, würde übrigens auch vom Unionsrecht gefordert.

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