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"Verstreute" Grundrechte

Von Manfred Matzka

© WZ-Illustration: Irma Tulek

Die im Verfassungsrang garantierten Freiheiten sind über viele verschiedene Bestimmungen verteilt.


Im Gegensatz zu den Verfassungen vieler Länder enthält das B-VG keinen umfassenden Grundrechtekatalog, weil sich die politischen Parteien 1920 nicht auf einen solchen einigen konnten. Provisorien halten bekanntlich lange in unserem Land, und so haben wir heute noch ein ziemlich unübersichtliches System von Grundrechtsbestimmungen.

Noch immer sind Regelungen des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus 1867 und des Staatsvertrags von St. Germain aus 1918 anwendbar. Das B-VG selbst enthält einige Grundrechtsregelungen und in den 1950er Jahren brachten der Staatsvertrag von Wien und vor allem die Menschenrechtskonvention weitere Ergänzungen.

Eine Reihe von Zusatzprotokollen zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere völkerrechtliche Verträge etwa gegen rassische Diskriminierung und über soziale Rechte brachten in der Folge Erweiterungen. In den Folgejahren sicherten punktuelle Neuregelungen etwa das Fernmeldegeheimnis, die Kunstfreiheit, den Schutz der persönlichen Freiheit, Minderheitenrechte und den Datenschutz. Die vorläufig letzte Ergänzung brachte 2009 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Ordnungsversuche

Seit dem Jahr 1964, als die Grundrechtsreformkommission eingesetzt wurde, bis zum Österreich-Konvent 2005 gab es zahlreiche Versuche, die Grundrechte umfassend und übersichtlich in einem einzigen Verfassungsgesetz zu kodifizieren, doch blieben diese ohne konkretes Ergebnis. Dennoch ist der österreichische Grundrechtsschutz umfassend und die Möglichkeiten aller in Österreich lebenden Menschen, eine Verletzung ihrer Rechte rasch und wirksam abzuwehren, sind in der Verfassung besonders gut ausgeprägt. Hier kommt dem Verfassungsgerichtshof eine herausragende Rolle zu, weil er in seiner Judikatur viele Grundrechte entscheidend präzisiert, der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung angepasst und systematisch auf Basis der geschriebenen Normen weiterentwickelt hat.

Eine Darstellung aller Grundrechte und ihres Inhalts ist in dem hier zur Verfügung stehenden Rahmen nicht möglich, es kann nur ein Überblick gegeben werden:

Das Recht auf Leben schützt insbesondere vor exzessiver staatlicher Gewalt; die sogenannte "Fristenlösung" wird dadurch aber nicht unterbunden. Das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung sichert die Menschenwürde und verpflichtet Staatsorgane bei notwendiger Gewaltanwendung zum Maßhalten und zur Verhältnismäßigkeit. Das Gleichbehandlungsgebot verhindert jede unsachliche Diskriminierung und Willkür; es verpflichtet auch den Gesetzgeber zur Sachlichkeit und zu besonderer Sorgfalt bei Regeln, die Menschen unterschiedlich behandeln.

Öffentliche Ämter sind in Österreich für alle gleich zugänglich, die Freizügigkeit der Person und des Vermögens sind gewährleistet. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens erlangte in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im Migrationsbereich Bedeutung, indem es Familien vor Trennung bewahrt. Brief- und Fernmeldegeheimnis sind ebenso gesichert wie personenbezogene Daten - ein Grundrecht, das nicht nur den Staat, sondern auch Unternehmen und Private direkt bindet.

Garantierte Freiheiten

Der Schutz der persönlichen Freiheit und Sicherheit setzt einen engen Maßstab bei Verhaftungen und Freiheitsbeschränkungen, die immer einer richterlichen Anordnung bedürfen. Ähnliches gilt für das Hausrecht. In Österreich sind Eigentum und Erwerbsfreiheit verfassungsrechtlich geschützt, Eingriffe bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, die bürgerfreundlichen Kriterien zu genügen hat. Das Vereins- und Versammlungsrecht sichert ebenso wie die Freiheit der Meinungsäußerung die politischen Handlungsmöglichkeiten in der Demokratie. Freiheit der Wissenschaft, der Kunst, Glaubens- und Gewissensfreiheit schützen wesentliche Errungenschaften der Zivilisation gegen staatliche Beschränkung.

Das Recht auf den gesetzlichen Richter, auf ein faires Verfahren in Zivil- und Strafsachen und auf eine wirksame Beschwerde gegen jede staatliche Entscheidung sind wichtige Säulen des Rechtsstaats. Volksgruppen und Minderheiten genießen zudem besondere Schutzrechte.

Die Lehrbücher und Judikaturkommentare listen bis zu 40 einzelne Grundrechte auf. Die meisten davon gelten für alle Menschen in Österreich, manche aber auch für juristische Personen, einige wenige nur für die österreichischen Staatsbürger. Gewisse Grundrechte stehen unter Gesetzesvorbehalt, sie können also in sehr engen Grenzen durch Gesetze beschränkt werden, die allerdings solide gerechtfertigt sein müssen und den Kern des Rechts nicht beseitigen dürfen.

Abwehr gegen den Staat

Menschenrechte sind nicht nur wirksame Abwehrinstrumente der Einzelnen gegenüber dem Staat. Sie bedeuten auch eine verfassungsrechtlich abgesicherte Werteentscheidung und politisches Programm ebenso wie eine Verpflichtung der Regierung und des Parlaments zur Achtung jedes Menschen, zur Zurückhaltung bei staatlichen Eingriffen und zu positivem Tun.

Teil 10 der Serie:
100 Jahre Bundesverfassung
(erscheint jeden Freitag)
Redaktionelle Koordination:
Petra Tempfer,

Paul Vécsei
www.wienerzeitung.at/verfassung/