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Versöhnung im Niemandsland

Von Christian Hütterer

Wissen

Eine besondere Weihnachtsgeschichte ereignete sich 1914 an der Front in Belgien: Englische und deutsche Soldaten stellten eigenmächtig das Feuer ein und feierten gemeinsam.


Als der Krieg, der später der Erste Weltkrieg genannt werden sollte, im Sommer 1914 ausbrach, gingen alle beteiligten Nationen von einem kurzen Feldzug aus. Auf Waggons, die deutsche Soldaten an die Front brachten, konnte man "Ausflug nach Paris" lesen und spätestens zu Weihnachten wollten die eingezogenen Männer wieder bei ihren Familien sein.

Der Stellungskrieg

Der Krieg an der Westfront begann auch dementsprechend: Deutsche Truppen besetzten in kurzer Zeit das neutrale Belgien und stießen nach Frankreich vor. Vor dem Angriff auf Paris kam es am Fluss Marne zu einer entscheidenden Schlacht, in der britische und französische Truppen den deutschen Vormarsch zum Stehen bringen konnten. Der Verlauf der Front erstarrte und beide Seiten begannen, ihre Stellungen auszubauen.

Bald erstreckte sich von der Nordsee bis an die Schweizer Grenze ein vielschichtiges System von Befestigungen. Auf den kurzen Bewegungskrieg folgte nun der Krieg in den Gräben und er sollte vier Jahre, also weit länger als gedacht, dauern.

Im Herbst 1914 war nicht nur die ursprüngliche Begeisterung der Soldaten verflogen, es war auch offensichtlich, dass die für Weihnachten geplante Heimkehr ausgeschlossen war. Seit Wochen lagen auf den beiden Seiten der Front deutsche, französische, britischen und belgische Soldaten in den Schützengräben. Oft waren sie nur wenige Meter von ihren Gegnern getrennt, aber beide Seiten litten unter dem unwirtlichen Herbstwetter in Flandern. Die Schützengräben boten den Soldaten nur notdürftigen Schutz, der Regen machte die Gräben zu morastigen Löchern und die Kälte fraß sich durch die durchnässten Uniformen.

So kam es, dass die Soldaten knapp vor Weihnachten 1914 vor allem damit beschäftigt waren, ihre Unterstände einigermaßen trocken und sich selbst halbwegs warm zu halten.

Ein Aufruf von Papst Benedikt XV., über die Weihnachtsfeiertage einen Waffenstillstand zu halten, wurde von den Kriegsparteien ignoriert. Dennoch machte sich in den Tagen vor Weihnachten unter den Soldaten eine besondere Stimmung breit. Auf beiden Seiten der Front wurde der Nachschub an Kriegsmaterialien eingeschränkt, denn nun mussten andere Güter transportiert werden: Die Soldaten erhielten nämlich Weihnachtspakte ihrer Familien, aber auch Schachteln mit dem Konterfei der jeweiligen Monarchen, in denen sie Zigarren, Tabak und allerlei Spezialitäten fanden. Auf der deutschen Seite der Front wurden zugleich Tausende von Christbäumen geliefert, die bis in die vordersten Linien gebracht wurden.

"Don’t shoot!"

Am Heiligen Abend begannen deutsche Soldaten, geschmückte Christbäume und Kerzen auf die Brustwehr vor ihren Gräben zu stellen. Die Soldaten auf der anderen Seite der Front reagierten meist unschlüssig darauf, manche hielten dies gar für eine Kriegslist der Deutschen und befürchteten, dass gerade an diesem Abend ein großer Angriff bevorstehen könnte. Britische Soldaten schossen in die Richtung der deutschen Gräben, stellten aber mit Verwunderung fest, dass von dort nicht zurückgeschossen wurde.

Die Überraschung steigerte sich, als sie von der deutschen Seite hörten: "Englishmen! Englishmen! Don’t shoot. You don’t shoot, we don’t shoot." Diese Rufe waren der Auftakt zu einem friedlichen und außergewöhnlichen Abend. An vielen Abschnitten der Front ruhten die Waffen und die Soldaten verbrüderten sich in einer weihnachtlichen und friedlichen Stimmung.

Aber lassen wir Zeugen davon berichten: Bei der Ortschaft Basse- ville lagen sächsische Soldaten unter dem Kommando von Leutnant Kurt Zehmisch. Am Heiligen Abend sangen sie Weihnachtslieder und Zehmisch hielt eine kurze Ansprache. Er befahl seinen Männern, dass "heute am Heiligen Abend und an den Weihnachtsfeiertagen kein Schuss von unserer Seite abgegeben wird, wenn es zu umgehen ist". Danach bezog er wieder seinen Posten im Schützengraben und sollte später berichteten: "Soldat Möckel von meinem Zug, der mehrere Jahre in England gewesen war, und ich rufen die Engländer auf Englisch an, und bald hatte sich zwischen uns eine ganz spaßige Unterhaltung entwickelt." Zehmisch schlug ein Treffen im Niemandsland vor und die britischen Soldaten nahmen dieses Angebot an.

Mit erhobenen Händen und unter der Versicherung, unbewaffnet zu sein, gingen die Männer aufeinander zu. In der Mitte des Niemandslandes trafen die Männer aufeinander, schüttelten die Hände und wünschten einander frohe Weihnachten. "Da klatschten die Engländer in dem Schützengraben und wir in die Hände und riefen begeistert Bravo."

Gemeinsamer Gesang

Josef Wenzl vom bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment 16 schrieb kurz nach Weihnachten an seine Eltern: "Es klingt kaum glaubhaft, was ich euch jetzt berichte, ist aber pure Wahrheit. Kaum fing es an, Tag zu werden, erschienen schon die Engländer und winkten uns zu . . . Ein Engländer spielte mit der Mundharmonika eines deutschen Kameraden, andere tanzten, wieder andere hatten einen kolossalen Stolz, auf ihrem Kopf einen deutschen Helm zu tragen. Die Engländer stimmten ein Lied an, wir sangen hierauf Stille Nacht, heilige Nacht. Es war dies etwas Ergreifendes: Zwischen den Schützengräben stehen die verhasstesten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Man sieht halt, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden . . . "

Das bittere Ende: Kreuze auf dem deutschen Soldatenfriedhof in der belgischen Stadt Langemark.
© Hütterer

Ein schottischer Soldat berichtete, dass in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember die Soldaten aus den Gräben einander Lieder vorsangen. Am nächsten Tag "schauten wir über die Brustwehr und winkten einander zu. Zu unserer Überraschung stieg ein Deutscher mit erhobenen Armen aus dem Graben und hinter ihm rollten zwei andere ein Fass Bier. Drei von uns gingen hinaus, schüttelten ihre Hände und wünschten ihnen frohe Weihnachten und rollten unter dem Jubel der Briten und Deutschen das Fass in unseren Graben."

Andenken wurden ausgetauscht, Fotos der Familien gezeigt und es soll sogar ein Fußballspiel zwischen deutschen und britischen Soldaten stattgefunden haben, das übrigens mit einem knappen 3:2 Sieg der Deutschen endete.

Doch dieser Abend war nicht nur eine erfreuliche Unterbrechung der kriegerischen Routine, an vielen Abschnitten der Front wurde der Waffenstillstand genutzt, um gefallene Kameraden zu begraben, deren Leichen im Niemandsland liegen geblieben waren. An manchen Stellen feierten britische und deutsche Soldaten sogar gemeinsame Gottesdienste im Gedenken an die Verstorbenen.

Ein kurzer Augenblick

Der Waffenstillstand endete aber ebenso rasch, wie er begonnen hatte. An manchen Stellen hatten die Offiziere beider Seiten schon zu Beginn der Waffenruhe festgelegt, wann diese wieder enden sollte. Ein britischer Offizier schrieb: "Am nächsten Tag war die Stelle, an der wir so gesellig gewesen waren und an der uns die Deutschen frohe Weihnachten gewünscht hatten, mit ihren Leichen bedeckt." In wenigen Abschnitten der Front verweigerten die Soldaten allerdings den Befehl, auf die Männer auf der anderen Seite der Front zu schießen, mit denen sie Weihnachten auf eine besondere Art verbracht hatten und denen sie sich nun verbunden fühlten.

Wenn auch an manchen Orten der Waffenstillstand bis in das Jahr 1915 eingehalten wurde, so gingen diese friedlichen Episoden bald zu Ende. Die Einheiten an der Front wurden ausgetauscht und mit diesem Wechsel verschwand auch die Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Feiertage, denn die neu eingetroffenen Soldaten hatten diese Verbundenheit über die Front hinweg nicht miterlebt. Zudem hatten die Oberkommanden auf beiden Seiten von den spontanen Waffenruhen erfahren und den strikten Befehl ausgegeben, dass solche Verbrüderungen von nun an strengstens verboten seien. Wer dennoch mit dem Feind fraternisierte, dem drohte nun das Kriegsgericht.

Ein Jahr später, zu Weihnachten 1915, herrschte bereits ein anderer Ton. An vereinzelten Stellen versuchten Soldaten zwar wieder, eine kurze Waffenruhe über die Feiertage zu vereinbaren. Die beiden Heeresleitungen waren nun aber vorgewarnt und drohten strenge Strafen an, um Verbrüderungen wie im Vorjahr zu verhindern.

Dies war aber in den meisten Fällen gar nicht mehr notwendig, denn im zweiten Kriegsjahr war die Zahl der Opfer auf ein bis dahin unbekanntes Ausmaß gestiegen und der technische Fortschritt hatte sich in Form von Maschinengewehren und Giftgas zum Ausdruck gebracht. Die Vorstellung, dass man mit dem Feind Hände schütteln, Erinnerungsstücke austauschen und gemeinsam essen könnte, war unwirklich geworden. Ein britischer Soldat notierte in seinem Tagebuch: "Der Punkt, bis zu dem man mit dem Feind fraternisieren kann, ist überschritten. Es ist zu viel Hass in der Luft."

Bis heute kann nicht eindeutig gesagt werden, wie viele Soldaten an den Weihnachtsfeiertagen 1914 die Waffen niederlegten, Schätzungen gehen von rund 100.000 Mann aus. Der Waffenstillstand umfasste bei weitem nicht die gesamte Westfront. Längst nicht alle Soldaten wollten mit dem Feind einen Weihnachtsfrieden schließen, der britische Soldat Pat Collard schrieb etwa an seine Eltern: "Vielleicht habt ihr von der Plauderei zwischen unseren Soldaten und den Deutschen gelesen. Das alles ist eine Lüge. Die Scharfschützen machten weiter wie gehabt, glaubt also nicht, was in den Zeitungen steht." So ist in vielen Berichten über die Weihnachtsfeiern zu lesen, dass während der Verbrüderung der Lärm der Kanonen aus anderen Sektoren zu hören war.

Briten und Deutsche

Warum fanden die meisten dieser spontanen Waffenstillstände gerade in den Abschnitten statt, in denen sich deutsche und britische Soldaten gegenüber lagen? Fast ganz Belgien und große Teile Frankreichs waren von deutschen Truppen besetzt, die belgischen und französischen Soldaten kämpften also in ihrem eigenen Land gegen die deutschen Angreifer. Viele dieser Soldaten hatten auch Angehörige in den eroberten Gebieten, die nun unter deutscher Besatzung lebten und waren daher weniger bereit, sich mit ihren Gegnern - wenn auch nur für kurze Zeit - zu versöhnen. Die britischen Soldaten waren hingegen nicht in ihrer Heimat eingesetzt, sondern kämpften in einem für sie fremden Land.

Auf deutscher Seite waren nach dem raschen Vormarsch zu Beginn des Krieges viele kampferprobte Einheiten an die Ostfront verlegt worden, um dort den russischen Angriff zu stoppen. Sie waren im Herbst 1914 vor allem durch Einheiten ersetzt worden, die aus bairischen und sächsischen Reservisten bestanden. Dies waren Männer, die aus ihren Familien und von ihren Arbeitsplätzen gerissen worden waren und die vor allem daran interessiert waren, unbeschadet wieder heimkehren zu können. Dementsprechend war bei diesen Einheiten auch die Bereitschaft größer, eine Kampfpause einzulegen.

Die direkt an der Front geschlossenen Abkommen, während der Feiertage nicht aufeinander zu schießen, wurden jedenfalls bald weithin bekannt. Soldaten berichteten in Feldpostbriefen ihren Angehörigen darüber und in Großbritannien informierten die Zeitungen ihre Leser über diese Ereignisse.

Im Laufe des Krieges verhärteten sich allerdings die Fronten und so verblasste auch die Erinnerung an dieses Ereignis. Während der Weihnachtsfrieden in den deutschsprachigen Ländern lange Zeit wenig bekannt war, rief in Großbritannien eine Dokumentation der BBC im Jahr 1981 diese Ereignisse wieder in Erinnerung und machte sie dadurch zu einem Teil der kollektiven Erinnerung der Nation.

Das Motiv der Feinde, die sich zu Weihnachten zumindest für kurze Zeit versöhnten, wurde auch von Künstlern aufgegriffen. So nahm etwa der frühere Beatle Paul McCartney den Waffenstillstand als Anregung für das Video zum Lied "Pipes of Peace", und die britische Band The Farm verarbeitete die Ereignisse von Weihnachten 1914 in dem Lied "All together now", mit dem sie immerhin bis auf Platz 4 der britischen Charts kam. Der Weihnachtsfriede wurde in englischen Kinderbüchern, aber auch in einer Folge der populären Serie "Black Addar" nacherzählt und 1999 stellte eine Gruppe von historisch interessierten Briten die Episode an ihren Originalschauplätzen nach.

Über Großbritannien geriet der Weihnachtsfrieden in den letzten Jahren auch in den deutschsprachigen Ländern wieder in Erinnerung und spätestens 2005 wurden diese Ereignisse durch eine Verfilmung mit dem Titel "Merry Christmas" einem breiteren Publikum bekannt.

Und was bleibt von diesem wundersamen Ereignis? Der britische Historiker Malcolm Brown meinte, dass der Weihnachtsfrieden 1914 "im Herzen der Finsternis eine Kerze der Hoffnung" entzündet hat. Hoffen wir also, dass auch hundert Jahre später und in einer Zeit, in der uns laufend Nachrichten von Kriegen und Gemetzeln erreichen, das Licht der Menschlichkeit auch in schweren Stunden weiterhin hell scheint.

Christian Hütterer, geboren 1974, ist Politikwissenschafter und Historiker. Er arbeitet im EU- und Internationalen Dienst der Parlamentsdirektion in Wien.